Reb Meir Raphaels, der Leiter der jüdischen Gemeinde in Wilna, war anfangs ein Gegner des Chassidismus. Schließlich wurde er jedoch einer der treusten Schüler von Rabbi Schneur Salman von Ladi, dem ersten Chabad-Rebbe. Die folgende Geschichte erklärt seine Bekehrung.

Ein armer Mann war auf dem Weg zu Rabbi Schneur Salman. Am Donnerstagabend kam er in Wilna an, ging in eine Synagoge, nahm einen Talmud in die Hand und vertiefte sich darein. Er war damit zufrieden, den Schabbat in der Synagoge zu verbringen.

Der Feiertag kam. Der Aufseher bemerkte, dass der Gast ein Gelehrter war. Er sagte zu ihm: „In unserer Stadt gibt es viele, die das Gebot der Gastfreundschaft mit freudigem Herzen erfüllen. Wollt Ihr es nicht einem von uns ermöglichen, diese große Mizwa zu befolgen, indem Ihr an seinem Schabbattisch Platz nehmt?“

Dem hartnäckigen Aufseher gelang es, den Reisenden zu überreden. Das Essen am Freitagabend war mit Gesprächen über die Tora reich gewürzt. Der Gastgeber, ein reicher und gelehrter Mann, freute sich sehr darüber, einen so weisen Gast zu haben. Am Ende des Mahles seufzte der Gastgeber jedoch tief. Der Gast wunderte sich darüber, sagte aber nichts. Beim Mittagessen am folgenden Tag entwickelte sich eine lebhafte Diskussion über Aspekte der Torah. Wieder schien der Gastgeber hocherfreut zu sein; aber am Ende der Mahlzeit seufzte er wieder. Das wiederholte sich nach dem dritten Mahl. Als es bei der Melawe Malka nach dem Schabbat erneut geschah, konnte der Gast nicht länger an sich halten. Er fragte den Mann, was ihn betrübe.

Traurig berichtete der Gastgeber, man habe ihn und seinen Geschäftspartner falsch beschuldigt und sie seien zu drei Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt worden. Sie hätten Berufung eingelegt, und die Sache werde demnächst in St. Petersburg abschließend verhandelt.

Der Gast riet ihm: „Reise sofort nach Ljosna und bitte meinen Rebbe, Rabbi Schneur Salman, um Hilfe.“

Der Gastgeber sprach mit seinem Partner darüber. Sie machten sich Sorgen. Was würden die Nachbarn denken, wenn sie sich mit Chassidim einließen? Also beschlossen sie, zu ihrem Freund Reb Meir Raphaels zu gehen und seinen Rat zu befolgen.

Zu ihrer Überraschung sagte Reb Meir zu ihnen: „Ich finde, ihr solltet Rabbi Schneur Salman aufsuchen.“

Sofort machten sie sich auf den Weg nach Ljosna und legten ihr Problem Rabbi Schneur Salman vor.

„Ihr seid Gelehrte“, sagte der Rebbe. „Sagt mir, was die Worte ‚Das weltliche Reich gleicht dem himmlischen‘ im Talmud bedeuten.“ Die beiden Männer schwiegen.

„Ich werde es euch erklären“, sagte der Rebbe. „G-ttes Name wird nicht so gesprochen, wie man ihn schreibt. Der Allm-chtige wird sozusagen nicht mit seinem persönlichen Namen angesprochen. Das Gleiche gilt für irdische Könige. Man spricht sie nicht mit Namen an, sondern nennt sie Zar.“

Die beiden Männer fuhren sehr enttäuscht nach Wilna zurück. Der Rebbe war mit keinem Wort auf ihr Anliegen eingegangen. Kein Wunder, dass es so viel Widerstand gegen die Chassidim gab!

Als sie in Wilna ankamen, berichteten sie Reb Meir. Auch der verlor seinen ohnehin geringen Glauben an Rabbi Schneur Salman. Der Prozess in St. Petersburg nahte, und die Lage war immer noch schlecht.

Als letzte Chance beschlossen sie, den Justizminister zu besuchen und um Gnade zu bitten. Sie reisten nach St. Petersburg und erfuhren, dass der Minister gewöhnlich zu einer bestimmten Zeit im Park spazieren ging. Sie bestachen die Wachen und wurden eingelassen, bevor der Minister kam. Aber an diesem Tag war der Justizminister krank. Stattdessen ging der Kultusminister im Park spazieren.

Die Partner fielen ihm zu Füßen, erklärten ihm ihre Situation und baten ihn um Hilfe. „Tut mir leid“, sagte der Minister. „Aber ihr sprecht mit dem Falschen. Ich bin der Kultusminister.“

Die beiden wollten sich verabschieden, aber der Minister rief sie zurück. „Vor ein paar Tagen stellte mir der Zar eine Frage, die euren heiligen Talmud betraf. Ich fand keine zufriedenstellende Antwort. Wenn ihr sie mir geben könnt, informiere ich den Zaren in eurem Namen. Vielleicht hilft euch das.

Also, im Talmud steht: ‚Das weltliche Reich gleicht dem himmlischen.‘ Der Zar versteht diese Passage nicht, und mir ging es nicht besser. Kennt ihr die Antwort?“

Die beiden Männer waren einen Augenblick sprachlos. Dann gaben sie dem Minister die Erklärung, die der Rebbe ihnen vor Monaten gegeben hatte. Der Kultusminister war sehr zufrieden.

Bei seiner nächsten Begegnung mit dem Zaren legte er diesem die Antwort vor und sagte auch, woher sie kam. Auf Anordnung des Zaren ließ das Gericht die Anklage gegen die Partner fallen.

Als die beiden nach Wilna zurückkehrten, besuchten sie Reb Meir Raphaels und berichteten ihm alles, was geschehen war. Reb Meir verlor keine Zeit und brach nach Ljosna auf. Er schloss sich den Schülern von Rabbi Schneur Salman an und wurde bald ein bekannter Chassid.