Alle in der Stadt trugen zu Ehren des großen Ereignisses ihr Festtagsgewand. Hohe Gäste kamen von nah und fern. So etwas kam nicht jeden Tag vor, nicht einmal jedes Jahr: Der heilige Baal Schem Tow war eingetroffen und hatte einen seiner Enkel mitgebracht, der an diesem Tag heiraten sollte.

Die Hochzeitsprozession begann. Der Baal Schem Tow schritt langsam voraus, der Bräutigam ging an seiner Seite, die Bürger folgten ihnen.

Als sie sich der Chuppa (dem Hochzeitsbaldachin) näherten, begegnete ihnen ein einzelner Jude in einem Wagen, ein Fremder, den keiner beachtete. Aber der Baal Schem Tow blieb zur Überraschung aller stehen und ging auf den Wagen zu. Er flüsterte dem Fremden etwas ins Ohr, kehrte sogleich wieder an seinen Platz zurück und reichte dem Bräutigam den Arm.

Der Mann im Wagen sah ganz schlicht aus, aber die Chassidim waren davon überzeugt, dass er einer der verborgenen Zadikim war. Hatte nicht der heilige Rebbe die Hochzeit verzögert, nur um ein paar Worte mit dem Fremden zu wechseln?

Aber nun kam die Hochzeit. An diesem Abend waren die Freude und die Begeisterung groß. Alle waren von der Feier ergriffen. Es war, als wäre die Verbindung mit dieser profanen Welt gelöst worden.

Am nächsten Tag erinnerten sich die Chassidim an den seltsamen Vorfall und wollten wissen, wer der unbekannte Zadik war, mit dem der Baal Schem Tow auf dem Weg zur Hochzeit gesprochen hatte. Sie fanden heraus, wo er wohnte, und eilten dorthin, da sie hofften, er werde mit ihnen reden und vielleicht sogar enthüllen, was der Baal Schem Tow geflüstert hatte.


„Schalom Alejchem, Rebbe“, sagten sie ehrerbietig zu ihm.

„Rebbe?“, wunderte sich der Mann. „Ich bin weder ein Rebbe noch der Sohn eines Rebbe.“

„Ihr braucht Euch vor uns nicht zu verstellen, Rebbe“, versicherten die Chassidim. „Wir kennen die Wahrheit. Wenn unser Meister den Hochzeitszug aufhält, um Geheimnisse in Eurer Ohr zu flüstern, müsst Ihr ein Heiliger sein.“

„Ich bin weder ein Zadik noch ein Heiliger“, erklärte der Fremde. „Eurer Meister hat mir etwas sehr Persönliches gesagt.“

Aber so leicht ließen sich die Chassidim nicht abschrecken. „Sagt uns, was er gesprochen hat“, baten sie.

Der Fremde fühlte sich offenkundig unbehaglich. Aber als er nach langem Zögern merkte, dass er sie nicht loswurde, erzählte er ihnen die Geschichte.

„Ich wohne in einer Kleinstadt. Mein bester Freund seit der Kindheit wohnt im Haus gegenüber. Er ist Hausierer und reist immer wieder in die Städte und Dörfer der Umgebung, um Krimskrams zu verkaufen. Wenn er längere Zeit unterwegs war, versammeln sich Freunde und Nachbarn vor seinem Haus und begrüßen den Heimkehrer.

Einmal, nach einer besonders langen Reise, wollte ich ihn besuchen. Ich war wie gewöhnlich der Erste, und das Haus war leer. Seine Kinder spielten im Hof, seine Frau arbeitete in der Küche. Sie sagten, mein Freund sei nicht zu Hause, aber er werde bald zurückkommen. Während ich wartete, wollte ich eine Pfeife rauchen. Ich öffnete den Schrank, in dem er seinen Tabak aufbewahrte, und das Erste, was ich sah, war seine Geldbörse, die offen herumlag. Sie war prall gefüllt mit dem Geld, das er auf seiner letzten Reise verdient hatte und das er brauchte, um seine Schulden zu zahlen, seine Familie zu ernähren und neue Waren zu kaufen.

Ich wollte nicht, dass die Geldbörse so herumlag, für jeden sichtbar. Also beschloss ich, meinem Freund eine Lektion zu erteilen, und steckte die Börse ein.

Wie erschrocken würde er sein, wenn er sah, dass sie weg war! Ich lächelte grimmig in mich hinein. Natürlich wollte ich sie ihm sofort zurückgeben, aber nicht, ohne vorher seinen Gesichtsausdruck gesehen zu haben.

Da stand ich eine Weile, aber er kam nicht. Ich beschloss, etwas in meinem Haus zu erledigen, während ich wartete – voller Vorfreude auf die Lektion über Verantwortung, die ich meinem Freund erteilen wollte.

Aber alles verlief ganz anders als erwartet. Als mein Freund nach Hause zurückkehrte und zu seinem Entsetzen sah, dass alles Geld weg war, für das er so hart gearbeitet hatte, schrie er laut. Seine Frau brach in Tränen aus, und das Herz schien ihr zu brechen. Die ganze Familie stellte das Haus auf den Kopf, aber sie fand das Geld natürlich nicht. Alle Freunde und Nachbarn, die hereinströmten, um meinen Freund zu begrüßen, gerieten mitten ins Chaos.

Als ich zurück zum Haus meines Freundes ging, schien ich in ein Trauerhaus zu geraten. Mein Streich war alles andere als lustig gewesen. In dieser Atmosphäre und unter so vielen Leuten hatte ich nicht den Mut zu gestehen, dass ich an dem ganzen Schlamassel schuld war. Also gab ich mich ahnungslos und murmelte ein paar tröstende Worte. Sobald wie möglich wollte ich die Geldbörse zurückgeben, in einem ruhigen Augenblick, wenn niemand es sehen konnte.

Aber ein Tag folgte dem anderen, und die Gelegenheit, auf die ich wartete, bot sich nie. Mein Freund hatte großen Kummer mit seinen Geldgebern, die immer bei ihm zu sein schienen und ihn verfolgten, und ich wusste, dass ich das Geld unter diesen Umständen nicht zurückgeben konnte, ohne als Dieb beschimpft zu werden.

Mehrere Monate vergingen. Ich hatte das Geld immer noch und dachte ernsthaft daran, es günstig zu investieren und später mit einem angemessenen Zins zurückzuzahlen. Aber wie sollte ich das in meiner Stadt bewerkstelligen, wo alle mich kannten? Hätte ich plötzlich mit viel Geld ein Geschäft gegründet, wäre das den Leuten unweigerlich verdächtig vorgekommen.

Mir war klar, dass ich vorübergehend an einen fernen Ort ziehen musste. Also mietete ich einen Wagen und brach mit einem Kopf voller Pläne auf. Als ich hier ankam, war gerade eine Hochzeit im Gange.

Euer Lehrer sah mich, kam zu mir und flüsterte mir ins Ohr: ‚Es ist noch nicht zu spät, deinen Fehler gutzumachen. Fahr nach Hause und gib das Geld sofort zurück. Ich verspreche dir, dass dein Freund dir glauben und dich nicht des Diebstahls verdächtigen wird. Wenn nötig, komme ich vorbei und bezeuge deine ehrlichen Motive. Aber denke daran: Wenn du noch länger wartest, könnte es zu spät sein.‘

Ich hatte das Gefühl, eine schwere Last falle von meinen Schultern. Und nun werde ich nach Hause fahren und genau das tun, was der Rebbe mir geraten hat.“