In der dieswöchigen Sidra Wajechi zitiert die Tora den Segen, den Jakob seinen Söhnen erteilte. Der einleitende Vers dazu erlautet (Genesis 49, 1): "Und Jakob berief seine Söhne und sprach: Versammelt euch, und ich werde euch sagen, was euch in späteren Tagen zustoßen wird." Dazu bemerken unsere Weisen (Talmud, Pessachim 56a): "Jakob wollte seinen Söhnen das Ende der Tage enthüllen, da aber verließ ihn die Schechina (das ist die G-ttliche Allgegenwart)."

Wodurch sehen die Weisen sich zu dieser Auslegung veranlasst? Nach dem buchstäblichen Sinn des Verses ließe sich doch aus Jakobs Worten lediglich schließen, dass er hier die Segnungen meinte, die er seinen Söhnen geben würde, und die weiter unten in diesem Kapitel aufgeführt werden.

Einige Erklärer vertreten die Ansicht, den Weisen hätte der Ausdruck "in späteren Tagen" zu denken gegeben, nachdem dieser anderswo im Tenach "das Ende der Tage" bedeutet. Bei einer solchen Interpretation aber ergeben sich gewisse Schwierigkeiten, aus verschiedenen Gründen, die auf Vergleichen mit anderen ähnlichen Textstellen basieren.

Vielmehr lässt sich das Problem so lösen: Wir haben hier eine scheinbare Wiederholung in der Tora vor uns. Erst fordert Jakob seine Söhne auf, wie oben zitiert: "Versammelt euch, und ich werde euch sagen ...", und gleich im nächsten Vers heißt es (Vers 2): "Kommt zusammen und höret ..." Nachdem die Tora jedoch nichts unnötig wiederholt und überhaupt keine überflüssigen Wörter enthält, muss man logischerweise den Schluss ziehen, dass Jakob seine Söhne zu zwei verschiedenen, nicht gleichzeitigen Anlässen zusammenrief. Nur über die zweite Zusammenkunft wird weiter in diesem Kapitel berichtet, über der ersten liegt ein Geheimnis. Wir werden nicht davon unterrichtet, was Jakob bei der ersten Gelegenheit zu sagen beabsichtigte, und warum er es dann nicht gesagt hat.

Dies genau ist der Grund für die Aussage der Weisen, dass Jacob seinen Söhnen "das Ende der Tage" enthüllen wollte, und er dies dann nicht konnte, weil die G-ttliche Allgegenwart ihn verließ. Und eben deshalb berief er sie ein zweites Mal, wobei bei diesem zweiten Male der hebräische Ausdruck ("kommt zusammen") nicht beinhaltet, dass sie die von G-ttes Allgegenwart ausgehende Prophetie hören würden, wie dies im entsprechenden Ausdruck des ersten Verses ("versammelt euch") impliziert ist.

Die genaue Ausdrucksweise der Weisen im Talmud ist hier wesentlich für das Verständnis des ganzen Ereignisses. Sie sagen, wie oben gezeigt, die G-ttliche Allgegenwart habe ihn verlassen. Warum begnügen sie sich nicht einfach mit der Bemerkung, dass das "Ende der Tage" ihm verborgen blieb? Machte doch Jakob, sofort danach, in seinen Segnungen eine Reihe prophetischer Voraussagen, woraus zu entnehmen wäre, dass der Geist G-ttes weiter bei ihm weilte!

Nein, die Antwort ist, dass Jakob das "Ende der Tage" seinen Söhnen mitteilen wollte, in der Meinung, dass diese, nachdem sie sich "versammelt" hatten (also völlig geeint und in solcher Eintracht zum Empfang dieser Enthüllungen bereit waren), sowohl fähig als auch würdig wären, diese bestimmte Art von Prophetie entgegenzunehmen. Sie aber waren unfähig, G-ttes Allgegenwart aufzunehmen, sie konnte in ihnen nicht gegenwärtig sein, nicht "einwohnen" ("Schechina" ist, wie das Wort selbst es besagt, der Aspekt von G-ttlichkeit, der "einwohnt" und so sich enthüllt).

So denn entfernte sich die Schechina. Nicht von Jakob an sich (in Isolierung), der immer noch zukünftiges Geschick voraussagen konnte, sondern von seinem Versuch, dies auch seinen Söhnen zu übermitteln. Und dass dennoch die Weisen sagen, die Allgegenwart hätte sich auch von Jakob entfernt, hat diese Bedeutung: Dass die Söhne es nicht vermochten, die Schechina in sich aufzunehmen, diese Tatsache als solche beeinträchtigte den Jakob selbst. Das Versagen der Kinder ist, letzten Endes, eine Unzulänglichkeit der Eltern!

Für uns heute ist die Botschaft diese: Erst wenn sich Jakobs Söhne, die Juden, wirklich "versammeln" (also geeint sind und Eintracht bewahren), wird die Erlösung zum "Ende der Tage" nahe sein. Wir Söhne Jakobs können dies leider nicht in uns aufnehmen, wir können es mit dem Verstande einfach nicht begreifen; und so kommt es allein auf den Glauben an. Wenn wir alle daran glauben, dann steht der messianische Zeitalter, das "Ende der Tage" bald bevor.