Die ersten Worte der dieswöchigen Sidra lauten (Lev. 26:3): „Wenn ihr in Meinen Satzungen gehen und Meine Gebote halten und sie ausüben werdet …“

Der Midrasch Sifra und Raschi zur Stelle bemerken, dass der erste Teil des zitierten Verses nicht von der Einhaltung der Gebote sprechen kann, nachdem dies doch ausdrücklich im zweiten Teil steht, und sie fahren fort: „Wie verstehe ich dann (den ersten Ausdruck) ‚Wenn ihr in Meinen Satzungen gehen werden’? Es bedeutet, dass ihr euch im Studium der Tora abmühen sollt.“

Wenn es sich also um das Studium handelt, weshalb bedient sich dann die Tora hier des Wortes „Satzungen“ (hebr.: „Chukim“ oder „Chukot“)? Das Studium der Tora basiert doch im Wesentlichen auf Verstand und Intellekt. Die dabei anzuwendende Mühe besteht nicht darin, dass man rein mechanisch die kleinsten Einzelheiten der Gesetze auswendig lernt, sondern dass man auch die Begründungen zu verstehen sucht, wie diese in der Schriftlichen und der Mündlichen Lehre dargelegt sind.

Indessen bilden die „Chukim“, die an sich mit dem menschlichen Verstand überhaupt nicht zu begreifen sind (siehe Raschi, Anfang der Sidra Chukat), nur einen kleineren Teil der Tora, während der größere Teil der Mizwot dem Verständnis wohl (im größeren oder kleineren Ausmaße) zugänglich ist. Nun ist aber die Schriftliche Lehre längst nicht so umfangreich wie die Mündliche, die doch eine große Maße traditioneller Lehren enthält. Bei der Schriftlichen Lehre ist das Verstehen nicht absolut entscheidend, woraus zum Beispiel folgt, dass jemand den Segensspruch über das Studium der Tora oder für den Aufruf zur Toravorlesung sogar dann sagen muss, wenn er das Vorgelesene gar nicht versteht. Dagegen darf über die Mündliche Lehre ein Segensspruch nur dann rezitiert werden, wenn man den betreffenden Teil auch versteht.

Der quantitative Unterschied zwischen der Schriftlichen und der Mündlichen Lehre ist weiterhin dadurch gekennzeichnet, dass die Schriftliche Lehre eine genau festgelegte Anzahl von Wörtern und Versen umfasst. Man darf dem nichts hinzufügen. Die Mündliche Lehre aber ist „weit offen“. In einem bestimmten Umfang ist sie vorhanden und uns enthüllt, doch die Tür bleibt offen für neue „Entdeckungen durch den eifrigen Schüler“, und sie hat keine Grenzen (vgl. Talmud Jeruschalmi, Pea 2:4; Schmot Rabba, Anfang von Kap. 47; Wajikra Rabba, Anfang von Kap. 22).

So denn kommen wir auf die oben gestellte Frage zurück: Warum werden in unserem Vers für das Studium der Tora lediglich die „Chukim“ genannt, die (a) nur einen kleineren Teil der Tora ausmachen und (b) ohnehin mit der Vernunft nicht zu erfassen sind?

Die Antwort ergibt sich aus einer tieferen Analyse des Wortes „Chok“: Rabbi Schneor Salman von Liadi, der Begründer der Lubawitsch-Bewegung, erklärt, dass dieses Wort für „Satzung“ – „Chok“ – auf das Wort für „eingravieren, einschneiden“ – „Chakika“ – zurückgeht. Demnach besagt der Ausdruck „Chukotai“ in unserem Vers, dass das Studium der Tora einem Akt von „Einschneiden“ und „Gravieren“ gleich sein muss, nämlich, dass man die Worte der Tora in die Seele „einmeißeln“ soll.

Was ist besonders charakteristisch für das Eingravieren und Einmeißeln von Buchstaben und Worten?

Erstens werden sie dann nicht, wie zum Beispiel bei Tinte und Papier, als etwas Außenstehendes auf ein getrenntes Material geschrieben. Vielmehr sind sie ein wesentlicher Teil des Materials selber. Zweitens – und das ist noch wichtiger – haben diese eingravierten Worte keine eigene Substanz, keine Selbständigkeit; sie existieren nur deshalb, weil das Material, in das sie eingeschnitten sind, existiert.

Wenn wir daher in dem zitierten ersten Vers unseres heutigen Wochenabschnittes angehalten sind, dass unser Lernen (nach der gegebenen Wortanalyse) in uns „eingraviert“ sein soll, dann heißt das nicht bloß, dass ein Jude mit der Tora „vereint“ sein soll – ungleich der Oberflächlichkeit des im Talmud (Sanhedrin 106b) genannten Do’eg, über den die Weisen aussagen, sein Lernen gehe „nur von der Oberfläche nach außen“. „Vereinigung“ besteht auch bei Tinte und Papier, wie bei anderen voneinander getrennten Dingen, die zusammengebracht werden. Das genügt beim Lernen noch nicht.

Sondern es muss „eingraviert“ werden, bis die lernende Person (sozusagen) ihre Substanz verlustig geht, bis ihr Ego seine eigene Stimme verliert. Sie muss ganz in der Tora „aufgehen“.