Der Wochenabschnitt „Emor“ wird immer während der Omerzählung (die Tage zwischen Pessach und Schawuot) rezitiert und in ihm selbst wird das Gebot des Omerzählens erwähnt: Und ihr sollt zählen . . . sieben volle Wochen seien es.1 Einen Vers später heißt es: Zählet fünfzig Tage.

Dabei fällt gleich auf: „Sieben volle Wochen“ sind neunundvierzig Tage (wie wir auch tatsächlich bis zum Schawuotfest zählen); was meint die Thora mit „Zählet fünfzig Tage“?!

Auch die Zählungsweise, wie sie in allen Gebetbüchern zu finden ist, macht auf sich aufmerksam. Wir zählen nicht „Erster Tag des Omer“, „Zweiter Tag des Omer“ usw., sondern „Ein Tag zum Omer“, „Zwei Tage zum Omer“ usw. Was verbirgt sich hinter dieser Zählungsart?

Der Reinigungsprozess

Um dies zu verstehen, liegt es an uns in der Geschichte zurückzugehen, und zwar zur allerersten Omerzählung, die die Kinder Israels mit dem Auszug aus Ägypten vollzogen hatten. Der einfachen Erklärung zufolge zählten die Kinder Israels jene Tage, weil sie voller Sehnsucht den Erhalt der Thora am Schawuotfest erwarteten. Deshalb zählten sie Tag für Tag, der großen Aufregung wegen. Die jüdische Mystik aber enthüllt uns, dass die Omer-Zählung des jüdischen Volkes noch einen viel tieferen Sinn hatte!2

Die 210jährige Sklaverei in Ägypten hatte große Auswirkungen auf die Kinder Israels. Sie lernten von den Sitten der Ägypter und ihrer Gräueltaten – G-ttes Volk war in der Götzenwelt Ägyptens fast vollkommen versunken. Unsere Meister lehren sogar, dass wenn G-tt ihre Erlösung auch nur um etwas verzögert hätte, die Kinder Israels für immer verloren gewesen wären! Die Kabbala bezeichnet jenen Zustand, indem sich die Kinder Israel befanden, „die neunundvierzig Tore der Unreinheit.“3

Dieser Zustand des jüdischen Volkes machte das Erhalten der Thora nach dem Auszug aus Ägypten unmöglich. Deshalb zählten die Kinder Israels neunundvierzig Tage, an denen sie sich von jener Unreinheit lösen sollten, um am Ende dieser die Thora zu erhalten! Von Tag zu Tag entfernten sie sich von noch einer bösen Kraft und jedes Mal stiegen sie eine weitere Ebene in der Heiligkeit auf – sie durchschritten ein weiteres Tor der „neunundvierzig Tore der Reinheit“!

Jahr für Jahr

Dieser Prozess der geistigen Reinigung fand nicht nur damals statt, sondern er wiederholt sich Jahr für Jahr.4 In den Tagen zwischen Pessach und Schawuot sollen auch wir uns reinigen und mit jedem Tag ein weiteres „Tor der Reinheit“ beschreiten. Mit jedem Tag lösen wir uns von einer weiteren Eigenschaft, die besser sein könnte. Wir setzen uns mit unseren charakteristischen Schwächen auseinander, begreifen und verbessern sie; denn die Aufgabe in jener Zeit ist, ein verbessertes Verhältnis zu G-tt und unseren Mitmenschen aufzubauen!

Nun wird verständlich, warum bei der Omerzählung jeder Tag für sich selbst gezählt wird – „Ein Tag“, „Zwei Tage“ usw. und nicht „erster Tag“ usw. Denn die neunundvierzig Tage symbolisieren die „neunundvierzig Tore der Reinheit“. Mit jedem weiteren gezählten Tag deuten wir die Anzahl der Tore an, die wir bereits erreicht und durchschritten haben – am ersten Tag „ein Tor“, am zweiten Tag „zwei Tore“ usw.

Ein Himmelsgeschenk

Die Möglichkeiten des Menschen sind aber begrenzt. Wie sehr wir auch danach streben uns zu perfektionieren – mit dem Neunundvierzigsten Tor haben wir schon eine solch hohe Stufe der Reinheit betreten, die an unsere menschlichen Möglichkeiten grenzt! Das fünfzigste Tor jedoch überschreitet diese Grenze!

Doch G-tt, Der unseren Fortschritt in den vorigen Tagen gesehen hat, schenkt uns das fünfzigste Tor – die höchste Stufe der Reinheit, verkörpert durch die „Offenbarung am Sinai“, nachdem wir mit unseren eigenen Kräften die „neunundvierzig Tore der Reinheit“ erreicht haben!

Somit also zählen wir unsere neunundvierzig Tage und erreichen dennoch fünfzig, da uns das letzte Tor G-tt beschreiten lässt; wenn Er uns aufs Neue die Thora übergibt.

(Likutej Sichot, Band 3, Seite 995)