In der ganzen Periode, da die Juden ursprünglich in ihrem eigenen Lande, in Erez Israel, lebten, begann im Monat Nissan die Erntezeit. Jedes Jahr am zweiten Tage von Pessach wurde im Tempel ein besonderes Opfer dargebracht – das Omer, ein bestimmtes Maß von neu geschnittener Gerste.
Angefangen mit jenem Tage, an dem das Omer in den Tempel gebracht wurde, also vom zweiten Pessachtage an, wurden genau sieben Wochen gezählt, bis Schawuot, dem Feste der Weizenernte, an dem zwei Brote in den Tempel gebracht wurden, aus frischem, neu geernteten Weizen gebacken. Die dazwischen liegenden 49 Tage werden die "Tage des Omer-Zählens" (Sefirat Ha-Omer) genannt. Es ist uns geboten, diese Mizwa der Sefira (s. Lev. 23, 15-16) jedes Mal zu erfüllen; und so zählen wir auch heute jede Nacht von der zweiten Nacht von Pessach bis Schawuot.
Der der Darbringung des Omer innewohnende grundlegende Gedanke war dieser: dass wir nämlich hierdurch zu der Erkenntnis gebracht werden sollten, dass es allein G-tt ist, der uns die Erzeugnisse des Feldes gibt, und dass wir Ihm dafür unseren Dank ausdrücken müssen, bevor wir uns – oder auch nur unser Vieh – daran machen, diese Erzeugnisse zu genießen. Dieser Gedanke ist identisch mit der Idee, die uns bestimmt, vor jedwedem Genuss einen Segensspruch zu sagen, als einen Ausdruck des Dankes an den Schöpfer.
Der demnächst beginnende Monat Ijar ist in einer Beziehung einzigartig, nämlich darin, dass wir jede Nacht dieses Monats eine zusätzliche Mizwa erfüllen können: das Omer-Zählen. Das heißt also, dass wir im Laufe dieses Monats 29 Mizwot auf unsere Gutschriftsseite schreiben können!
Wir können uns leicht vorstellen, wie beglückt unsere Vorfahren über ihre Befreiung aus ägyptischer Versklavung sein müssen. Doch wurde ihre Freude noch ungleich größer, als Moses ihnen verkündete, sie würden ganz kurz nach ihrem Auszuge aus Ägypten die Tora am Berge Sinai empfangen. Mit welcher Ungeduld sie auf diesen Augenblick harrten! Sie waren so ungeduldig, dass sie die Tage zählten, die bis zu jenem großen Ereignis verstreichen mussten, ähnlich wie zum Beispiel ein jüdischer Junge vor seiner Barmizwa begierig auf diesen hochwichtigen Tag wartet und die Wochen und Tage bis zu dem bedeutenden Ereignis zählt.
Es ist aus eben diesem Grunde, dass uns die Tora vorschreibt, die Tage zu zählen zwischen Pessach, dem Fest zur Erinnerung an die Befreiung aus Ägypten, und Schawuot, an dem wir die Verkündung der Tora feiern. Wir müssen uns gleichsam persönlich angesprochen fühlen, so als wären wir selbst aus Ägypten erlöst worden und nun auf dem Wege zur Verkündung der Tora. Wie unsere Vorfahren – die sich von Tag zu Tag auf eine immer höhere Stufe emporrangen, derart, dass sie zum Zeitpunkt der Offenbarung der Tora sich von einem Volk von Sklaven in ein "Reich von Priestern und eine heilige Nation" (Exodus 19, 6) verwandelt hatten – so müssen auch wir uns vorbereiten und uns innerlich auf den großen Augenblick abstimmen, da wir die Tora entgegennehmen. Von dem geradezu wundersamen Fortschritt auf ethischem Gebiete, den unsere Vorfahren in nur 49 Tagen machten, müssen auch wir uns anfeuern lassen.
Das Zählen der Omer-Tage sollte uns den unermesslichen Wert der Zeit erkennen lassen. Zeit ist nicht Geld; sie ist viel wertvoller als das. Wenn wir älter werden und uns in einer Lage befinden, wo die Zeit drängt, dann sehen wir wohl ihren Wert klarer ein; aber dann ist es gewöhnlich leider zu spät. So müssen wir uns dazu bringen, ihre Bedeutung schon in unserer Jugend einzusehen, solange wir in der glücklichen Lage sind, noch reichlich Zeit zu haben; denn wir können sie nicht "aufspeichern" oder "auf Lager geben", um sie später einmal zu nutzen.
Der Psalmist singt: "O lehr uns, unsere Tage zu zählen, auf dass wir ein Herz von Weisheit erstreben" (Psalm 90, 12).
Diskutieren Sie mit