Unser Wochenabschnitt beginnt mit einem der wichtigsten Glaubensgrundsätzen des Judentums – die freie Wahl. G-tt richtet Sich an das jüdische Volk und sagt: Siehe, Ich gebe euch heute Segen und Fluch. Den Segen, wenn ihr auf die Mitzwot G-ttes hört; und den Fluch, wenn ihr nicht auf die Mitzwot G-ttes hört.1

Die Wahl einiger Ausdrücke in diesem Vers ist seltsam. Das Wort „Ich – „Ich gebe euch“ – steht für gewöhnlich für sehr besonderen Segen in Zusammenhang. Ein Beispiel dafür sind die Zehn Gebote, die mit Ich bin G-tt, Dein G-tt2 beginnen. Auch das Wort „gebe“ wird mit Segen in Verbindung gebracht, wie im Talmud steht: „Wenn man gibt, gibt man mit Großzügigkeit“.3 Wie können deshalb diese Ausdrücke, die mit Segen und Überfluss zu tun haben, in Verbindung mit Segen und Fluch gebracht werden? Wie ist es möglich, dass von „Ich“ Fluch kommt und wie kann der Fluch als ein „Geschenk“ gelten, das G-tt uns „gibt“?

Ein Fehler in der Schöpfung?

Um dies zu verstehen, müssen wir ein wenig dem Sinn von Fluch und Segen auf den Grund gehen, oder in anderen Worten: dem Sinn von Gut und Böse auf der Welt. Nicht nur einmal fragten wir uns, angesichts der ständigen Konfrontation zwischen Gut und Böse, wozu G-tt überhaupt das Böse erschaffen hat. Wozu erschuf Er eine Existenz, die im Widerspruch zum Guten steht, es ständig bekämpft und uns andauernd dabei behindert das Richtige zu tun?

Die Antwort lautet: Das Böse existiert nur, um eine freie Wahl zu ermöglichen! Gäbe es auf der Welt nur Gutes und würde der Mensch keinerlei Neigungen für das Schlechte besitzen und keine Möglichkeiten haben Böses zu tun, hätte er zwar nur das Gute getan, aber nicht aus freier Wahl, sondern weil es keine andere Option gäbe. Um freien Willen zu ermöglichen, muss es zwei Wege geben, gut und schlecht und sobald dann der Mensch sich für den richtigen Weg entscheidet, tat er dies aus freier Wahl.

Von großem Wert

Die freie Wahl ist für den Menschen von enormer Wichtigkeit. Sie gehört zu seinen einzigartigen Besonderheiten. Alle anderen Geschöpfe auf der Welt besitzen keine freie Wahl. Sie handeln anhand ihrer angeborenen Triebe und ihren Instinkten. Das einzige Geschöpf in dieser Welt (aber auch in den spirituellen Welten, denn sogar die Engel haben keine freie Wahl), dass die Fähigkeit der freien Wahl hat, ist der Mensch.

Auf der freien Wahl basiert auch das Prinzip von Belohnung und Strafe. Ohne eine freie Wahl gibt es keinen Grund für Belohnung und keine Rechtfertigung für Strafe. Tiere bekommen keine Belohnung für ihre „guten“ Taten und werden für ihre „schlechten“ Taten nicht bestraft, weil sie nicht aus freier Wahl handeln. Nur der Mensch verdient Belohnung für seine guten Taten und Strafe für seine Missetaten, weil es sein Verhalten bzw. seine Entscheidung war.

Das Böse – ein Segen

Die Existenz des Bösen ist also nicht etwas Schlechtes für den Menschen, sondern ganz im Gegenteil – sie ist der allergrößte Segen G-ttes, da sie ihn zur freien Wahl befähigt. Nur durch das Böse hat er die Möglichkeit der Wahl. (Und sollte er sich dennoch für das Böse entscheiden, missbraucht er seine freie Wahl.)

Deshalb benutzt die Thora, wenn sie vom Bösen spricht, die Ausdrücke „Ich“ und „gebe“. Sie deutet uns damit an, dass das Böse nicht dazu erschaffen wurde, uns beim Ausüben von Mitzwot und guten Taten in die Quere zu kommen, sondern die Existenz des Bösen ist zu unserem Besten, damit wir von uns aus und aus eigenen Kräften (denn so drückt sich freie Wahl aus) das Richtige tun können.

Schon allein diese Erkenntnis gibt uns die Kraft, sich vom Bösen (auch ausgedrückt durch Hindernisse und Schwierigkeiten beim Erfüllen der Mitzwot und guter Taten) nicht einschüchtern zu lassen. Denn seine ganze Existenz und sein ganzer Sinn liegen doch nur darin, dass wir das Richtige aus freier Wahl tun können. Somit hat das Böse, wie groß und unüberwindbar es auch scheinen mag, gar keinen Sinn an sich, sondern ist nur Mittel zum Zweck, um uns die freie Wahl zu ermöglichen!

(Likutej Sichot, Band 4, Seite 1339)