Welches ist die härtere Glaubensprüfung: Wohlstand oder Armut? Ist es schwerer, ein guter Jude zu sein, wenn man reich oder arm ist, wenn man Erfolg hat, oder wenn man kämpfen muss? Zweifellos würden wir uns alle lieber vom Reichtum prüfen lassen, nicht wahr? Aber bleiben wir objektiv und historisch.
Anfang des 19. Jahrhunderts eroberte Napoleon Europa und versprach Freiheit und Gleichheit für alle. Als er gegen Russland in den Krieg zog, waren viele Rabbiner auf seiner Seite, denn sie hofften, er werde der Verfolgung der Juden ein Ende machen und ihnen die Bürgerrechte gewähren. Rabbi Schneur Salman von Ladi, der Gründer von Chabad, war anderer Meinung. Er war ein Gegner Napoleons, und seine Chassidim versorgten sogar die russische Armee mit Nachrichten.
Als seine Kollegen ihn kritisierten und behaupteten, das Wohl seines Volkes liege ihm nicht am Herzen, sagte er, Napoleon bringe den Juden zwar materielle Vorteile, aber eine spirituelle Katastrophe. Er sollte Recht behalten. Die russischen Juden blieben entschieden jüdisch, während die französischen Juden fast verschwanden. Wie viele jüdische Rothschilds gibt es heute noch? G-tt weiß, dass wir sie nötig hätten. Die meisten französischen Juden kommen heute aus Nordafrika. Einheimische gibt es kaum.
Im Wochenabschnitt Wajischlach lesen wir von der dramatischen Begegnung zwischen Jaakow und Eisaw. Dazu gibt es im Midrasch eine faszinierende Auslegung. Die Tora sagt: „Und Eisaw eilte zu ihm und umarmte ihn ... und er küsste ihn.“ Das hebräische Wort für „und er küsste ihn“ lautet Wajischakehu. In der Tora wird es mit einer punktierten Linie über den Buchstaben geschrieben. Laut Jalkut Schimoni bedeuten diese Punkte, dass man das Wort anders lesen muss: nicht Wajischakehu, sondern Wajischachehu, „Er biss ihn“! Warum verändert der Midrasch die Bedeutung eines Wortes so stark? Ein Kuss drückt Liebe aus, ein Biss das Gegenteil. Der Sfat Emet (Rabbi Jehuda Leib Alter, 1847–1905), der zweite Rebbe der chassidischen Dynastie von Ger) bemerkt dazu: „Wenn Eisaw küsst, wird Jaakow gebissen.“ Der Kuss eines Antisemiten ist nie ein Kuss der Liebe; er kann eine sehr gefährliche Form der Zuneigung sein.
Wenn der Antisemitismus beißt, wissen Juden instinktiv, wie sie reagieren müssen. Aber wenn Antisemiten küssen, wenn sie uns mit Liebe, Freundschaft und Zuneigung überschütten, werden wir unsicher. Oft lassen wir uns betören und schlucken den Köder. Wir tun unser Bestes, um die Zuneigung zu erwidern. Die Folge? Ungezügelte Assimilation!
Die Erfahrung in Amerika bestätigt ohne jeden Zweifel, dass Freiheit, Demokratie und gleiche Rechte zwar ein Segen sind, für den wir ewig dankbar sein müssen, dass sie aber auch unsere jüdische Identität und Lebensweise bedrohen. Im Schmelztiegel der USA haben sich die Juden so erfolgreich angepasst, dass sie fast verschwinden! Erfolg und Wohlstand sind wundervolle Chancen; aber die Glaubensprüfung bestehen wir anscheinend nicht mit fliegenden Fahnen.
Der französische Philosoph Jean Paul Sartre meinte, der Antisemitismus sei gut für die Juden – er sorge dafür, dass sie jüdisch blieben! Niemand will unterdrückt werden, und wir lehnen den Antisemitismus entschieden ab. Dennoch hat Sartre nicht ganz Unrecht.
Mögen Armut und Verfolgung uns nie wieder prüfen. Wir wollen mit G-ttes Hilfe stolze und kluge Juden sein, die die spirituelle Herausforderung des guten Lebens bewältigen.
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