Am Anfang schuf G-tt Himmel und Erde (Genesis 1:1).

Reden wir zur Abwechslung ein wenig über Philosophie.

Aus dem ersten Vers der Tora könnte man schließen, dass es einmal eine „Zeit“ gab, in der nichts existierte. Dann schuf G-tt das Universum. Der Tanja zufolge ist es durchaus nicht „natürlich“, dass die Welt existiert; denn sie hat ja einmal nicht existiert. Deshalb muss die schöpferische Kraft G-ttes, welche die Welt hervorbrachte, ständig vorhanden sein, damit die Welt existent bleibt. Ohne diese g-ttliche Energie würde die Welt aufhören zu existieren – als würde jemand den Stöpsel aus der Schöpfung ziehen.

Diese Idee wird „Gesetz der fortdauernden Schöpfung“ genannt. Darum bezeichnen wir G-tt in unserem Morgengebet als denjenigen, der „in seiner Güte jeden Tag das Werk der Schöpfung erneuert“. Das bedeutet nach der Tanja nicht nur „jeden Tag“, sondern auch „jeden Augenblick“.

Um das zu verstehen, stellen wir uns ein Kind vor, das einen Ball in die Luft wirft. Seine Kraft bestimmt, wie hoch der Ball steigt. Je stärker sein Arm ist, desto höher fliegt der Ball und desto länger widersteht er dem Gesetz der Schwerkraft. Doch sobald die Wurfenergie verbraucht ist, kann der Ball der Natur nicht mehr trotzen und fällt hinab.

So ist es auch, wenn der anfängliche oder „natürliche“ Zustand der Welt – die Nichtexistenz – überwunden werden soll: Die schöpferische Energie, der die Welt ihre Existenz verdankt, muss ständig erneuert werden. Andernfalls würde das Universum zu seinem anfänglichen Zustand des Nichtseins zurückkehren, so wie der Ball, der seine Energie verbraucht hat und zu Boden fällt.

Wenn wir nun vom Philosophischen zum Praktischen wechseln, finden wir in dieser Idee eine hoffnungsvolle, inspirierende Botschaft. Die Vergangenheit, unsere persönliche Geschichte und unsere Erfahrungen sind oft eine Last. Unsere Fehler und Irrtümer bedrücken uns und verhindern, dass wir uns weiterentwickeln. Dies ist nun die optimistische Botschaft für alle, die unter vergangenen Enttäuschungen leiden: Diese Welt ist völlig neu. Jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde erschafft G-tt die Welt neu. Vergessen wir die Vergangenheit. Was war, ist vorbei. Heute ist eine neue Welt, eine neue Gegenwart mit vielen aufregenden neuen Chancen. Wir können in jedem Moment neu anfangen.

Vor allem in der Woche Bereschit, wenn wir den Anfang der Tora lesen, ist die Zeit für jeden von uns günstig, neu anzufangen. Ein Neubeginn ist nicht immer leicht. Aber die Idee von der „fortdauernden Schöpfung“ kann uns dazu inspirieren, uns selbst eine neue Chance zu geben. Am Anfang des neuen jüdischen Jahres wollen wir diese Verheißung annehmen und den Mut fassen, neu zu beginnen.