An Rosch Haschana strömen Juden auf der ganzen Welt in die Synagogen und flehen den Allm-chtigen an, ihnen, ihrer Familie und ganz Israel ein friedvolles, glückliches und erfolgreiches Jahr zu gewähren. Gemäß der Tradition stehen an Rosch Haschana alle Geschöpfe vor dem himmlischen Gericht. Dieses entscheidet, wer leben darf und wer nicht, wer wohlhabend sein wird und wer nicht. Was sich im kommenden Jahr ereignen wird, entscheidet sich an Rosch Haschana.
Warum fällt diese Entscheidung jährlich? Kann ein ewiger und unendlicher G-tt nicht ein wenig weiter in die Zukunft planen? Wäre es nicht ökonomischer, etwa alle hundert oder tausend Jahre zu richten?
Rosch Haschana erinnert an den sechsten Schöpfungstag, als G-tt Adam und Eva schuf und ihnen den Atem des Lebens einhauchte. Wenn wir die Schöpfungsgeschichte verstehen, wird uns klar, was Rosch Haschana bedeutet.
Wir halten manches für selbstverständlich. Wenn wir einen Wasserhahn aufdrehen, erwarten wir, dass Wasser herausfließt. Ein Kind, das den Kühlschrank öffnet, erwartet, darin Essen zu finden. Doch weder das Wasser noch das Essen kommen von selbst. Es gibt eine Firma oder Behörde mit vielen Mitarbeitern, die sich um die Wasserrohre und Pumpen kümmern, die notwendig sind, um Wasser aus einem Brunnen ins Haus zu befördern. Und den Kühlschrank müssen die Eltern erst füllen.
Das Gleiche gilt für die Schöpfung. Es scheint, als sei die Welt ein „Ding an sich“. Wir nehmen an, dass alles, was vor einem Augenblick existierte, einen Moment später immer noch existieren wird. Aber in Wirklichkeit erhält der Schöpfer den Kosmos unaufhörlich am Leben. Ohne den stetigen Strom g-ttlicher Energie würde alles aufhören zu existieren, so wie kein Wasser mehr aus der Leitung käme, wenn das Wasserwerk nicht mehr arbeiten würde.
Und einmal im Jahr verliert G-tt das Interesse an seinem Zeitvertreib, seiner Schöpfung. Wir wurden erschaffen, weil G-tt ein guter König sein wollte. Darum schuf er uns, seine Untertanen, die er mit seiner unendlichen Güte überhäufen konnte, welche ansonsten ungenutzt geblieben wäre. Doch jedes Jahr, wenn Rosch Haschana beginnt, verliert G-tt sozusagen sein Interesse an seinen endlichen und sündigen Untertanen. Er zieht sich zurück, wird introvertiert, und wir müssen ihm einen Grund liefern, die Schöpfung ein weiteres Jahr zu erhalten.
Natürlich hat G-tt keine kurze Aufmerksamkeitsspanne, und er verliert auch nicht regelmäßig das Interesse an unvollendeten Projekten. Nein, dieses Phänomen ist Teil seines Meisterplanes.
Als G-tt diese Welt schuf, gab es nichts, was ihn zu großen Gesten hätte verlocken können. Das war ein Akt reiner Güte. Doch letztlich ist reine Güte gar nicht so gütig, weil die Begünstigten das Gefühl haben, ihrer unwürdig zu sein. Darum schuf G-tt eine Welt, in der alles, sogar unsere Existenz, verdient werden muss. Wenn die Welt ein weiteres Jahr existiert, dann deshalb, weil wir in G-tt den Wunsch erweckt haben weiterzumachen.
An Rosch Haschana, dem Jahrtag unserer Schöpfung, obliegt es demnach uns, dafür zu sorgen, dass alles weitergeht.
Wir gehen in die Synagoge und erklären: „Regiere über die ganze Welt in deinem Ruhme.“ Wir erinnern G-tt an seine Liebe für sein auserwähltes Volk, akzeptieren ihn erneut als unseren König und drücken unseren innigen Wunsch aus, ihm ein weiteres Jahr zu dienen. Wir erinnern ihn an die Begeisterung, die er empfand, als er vor fast 6000 Jahren die Welt erschuf.
Und wenn uns die Worte fehlen, weil sie unsere tiefsten Gefühle nicht wiedergeben können, nehmen wir einen Schofar, dessen schlichte, klagende Töne den wortlosen Schrei und die Bitte ausdrücken, die aus dem Kern unserer Seele stammen: „Vater, König, wir brauchen dich und lieben dich, und wir wissen, dass du uns brauchst und liebst!“
Wenn wir uns an diesem Rosch Haschana in der Synagoge versammeln, sollten wir daran denken, dass es im kommenden Jahr nicht nur um unser persönliches Wohl geht. Die ganze Schöpfung zählt auf uns. Weihen wir uns also mit ganzem Herzen G-tt. Dann wird er uns gewiss belohnen und uns allen ein schönes und bedeutsames Jahr schenken.
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