Die Tora beginnt mit den bekannten, fröhlichen Worten: „Am Anfang schuf G–tt die Himmel und die Erde.“
Weniger berühmt und schwerer zu verstehen ist der zweite Vers der Tora: „Und die Erde war wüst und leer, und Dunkelheit herrschte über der Tiefe, und der Geist G–ttes schwebte über dem Wasser.“
Schauen wir uns diese Worte einmal näher an - vielleicht klingen sie nicht mehr so spukhaft, wenn wir sie verstanden haben. Sie verraten uns viel darüber, warum die Welt so und nicht anders ist, welches Ziel wir haben und woher wir wissen, dass wir dieses Ziel erreichen.
Der Talmud schreibt über den zweiten Vers der Tora: „So hat die Schöpfung sich zugetragen: Zuerst kommt die Finsternis, dann das Licht.“
Diese Feststellung ist die Quelle des Gesetzes, wonach die Nacht vor dem Tag kommt. Darum beginnt der Schabbat am Freitagabend, und alle Feste und besonderen Daten des jüdischen Kalenders umfassen eine Nacht und den folgenden Tag. „Zuerst kommt die Finsternis, dann das Licht.“
Der Talmud spricht außerdem eine grundlegende Wahrheit über jeden Bereich unseres Lebens aus: Alles, was wir tun und erfahren, beginnt in der Dunkelheit. Wir werden aus dem Mutterleib in eine sonnige Welt hineingeboren. Wir sind zuerst unwissend, dann sammeln wir Wissen. Wir waren einst Barbaren, dann zivilisiert. Wir waren egoistisch und wurden altruistisch. Wir waren aufgewühlt, dann gelassen. Und Herausforderungen waren für uns Ansporn zu großen Erfolgen.
Was der Talmud sagt, macht uns mutig und stark. Er erklärt uns, dass in G–ttes Welt alles besser wird. „Zuerst kommt die Finsternis, dann das Licht“ und nicht umgekehrt, G–tt bewahre!
Philosophen und Mystiker stimmen darin überein, dass wir nur aus der Finsternis zum Licht finden; entweder (sagen die Philosophen) weil die Wirklichkeit und die Erfahrung des Lichts ohne Dunkelheit nicht möglich ist, oder (wie die Mystiker meinen) weil die Finsternis der Stoff ist, aus dem das Licht besteht.
Der Midrasch erläutert den zweiten Teil des Verses („Der Geist G–ttes schwebte über dem Wasser“): „Das ist der Geist des Moschiach.“
Wer und wo ist der Moschiach? Maimonides beschreibt ihn als Menschen, der „dem Königreich Davids wieder seinen alten Glanz verleihen wird ... Er wird den Heiligen Tempel erbauen und das zerstreute Volk Israel zusammenführen. In seiner Zeit werden alle Gesetze der Tora neu erlassen ... In dieser Ära wird es weder Hunger noch Krieg, weder Neid noch Streit geben. Denn das Gute wird überall sein und alles, was köstlich ist, wird so zahlreich sein wie Staub. Die ganze Welt wird nur eine Beschäftigung haben: G–tt zu erfahren.“ Mit anderen Worten: Es wird die Welt sein, von der Sie, ich und alle anständigen Menschen jeden Tag träumen.
Dieser Geist also schwebte oben und wartete auf seine Stunde, schon als Zeit, Raum, Energie und Materie am ersten Schöpfungstag aus dem „Wasser“ der Formlosigkeit und Leere auftauchten.
In den Augen eines Juden ist die Welt nichts Böses, das wir besiegen und transzendieren müssen. Sie ist auch keine neutrale Masse, die wir erst gut zu machen haben. Das Gute und Vollkommene ist bereits da; es schwebt über uns und wartet darauf, verankert und offenbart zu werden. Der Geist des Moschiach wurde in jedes Molekül der Schöpfung einprogrammiert; wir müssen nur auf die richtigen Knöpfe drücken, um ihn zu enthüllen.
„Und die Erde war wüst und leer, und Dunkelheit herrschte über der Tiefe, und der Geist G–ttes schwebte über dem Wasser.“ Daraus schöpft der Jude ewigen Optimismus; darum bemühen wir uns unablässig, unsere Welt besser zu machen; und deshalb glauben wir unerschütterlich daran, dass wir dabei Erfolg haben. Denn wir wissen: Die Finsternis ist der Stoff, aus dem das Licht besteht. Und das Licht ist schon da, es schwebt über uns und wartet darauf zu leuchten.
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