Opfer“ ist ein Wort, das man heutzutage nicht oft hört. Offenbar gehört es kaum noch zu unserem Wortschatz. Es hat einen negativen Beigeschmack, als müssten wir etwas Kostbares aufgeben oder etwas Großes verlieren. Niemand hat Lust, „Opferlamm“ zu sein. Unsere modernen Ohren hören dieses Wort nicht gerne.

Diese Woche beginnen wir, ein Buch der Tora zu lesen, das Wajikra (Levitikus) heißt. In diesem Buch geht es im Wesentlichen um Opfer, und zwar um solche, die man im alten Tempel auf dem Altar G–ttes darzubringen pflegte. Denken wir einmal über die heutige Einstellung zum „Opfer“ nach.

Seit einigen Jahrzehnten streben immer mehr Menschen nach „Selbsterfüllung“ und „Selbstachtung“. Und im Geschäftsleben gilt es als selbstverständlich, dass man die „Nummer eins“ werden will. Obwohl es in manchen Kulturen neuerdings Mode geworden ist, sich selbst zu „opfern“, wollen wir Westler im Allgemeinen keine Märtyrer sein. Opferlämmer sind antiquierte, klägliche Überreste einer vergangenen Zeit.

Nehmen wir jüdische Mütter als Beispiel. Diese liebevollen, selbstlosen Seelen wurden schon vor langer Zeit für schuldig befunden, ihre Kinder zu unterdrücken. „Sie wollte unbedingt, dass ich Medizin studiere!“ „Sie zwang mir Hühnersuppe auf!“ Berühmte jüdische Schriftsteller haben Millionen damit verdient, ihre Mütter vor aller Welt zu kritisieren.

Gewiss, auch jüdische Eltern verlangen manchmal zu viel; aber ich wage zu behaupten, dass die Opfer, die unsere Eltern, vor allem unsere Mütter, im Laufe der Generationen erbracht haben, unseren Respekt und ewige Dankbarkeit verdient haben – nicht aber den Vorwurf, sie seien an allen unseren Neurosen schuld.

Wenn wir objektiv sind, müssen wir Menschen bewundern, die das Wohlbefinden und das Glück anderer über ihr eigenes stellen. Warum bewundern wir Selbstlosigkeit und Opfer bei den Helden der Völker und der Freiheitsbewegungen, während wir sie unseren Müttern vorwerfen? Die Erfolge jüdischer Söhne und Töchter müssen doch wohl viel mit den Menschen zu tun haben, die sie aufgezogen und erzogen haben! Es ist ein modernes Wunder, dass eine Generation verarmter jüdischer Immigranten unmittelbar dafür verantwortlich ist, dass ihr Nachwuchs sich reibungslos in die „neue Welt“ einfügte und in fast jedem Bereich des Lebens erstaunliche Erfolge errang. Das wäre ohne große Opfer und totale Hingabe der Eltern schlicht unmöglich gewesen.

Aber das war damals. Heute sind wir aufgeklärt. „Ich brauche Freiraum.“ „Ich will mein Leben nicht für meine Kinder opfern.“ „Ich will mich selbst verwirklichen.“ Das sind berechtigte Wünsche und Bedürfnisse. Aber wir gehen dabei oft etwas zu weit. Warum sollte eine Frau, die für ihre Kinder die beste Mutter sein will, sich minderwertig fühlen, wenn sie ihre Karriere unterbricht oder gar abbricht? Wenn sie Freude daran hat, dass ihre Kinder gesunde, unabhängige, anständige und stolze Juden sind, hat sie ihre Zeit dann schlechter genutzt, als wenn sie erfolgreich für ein Unternehmen gearbeitet hätte?

Früher sind Ehepartner nicht jeden Samstagabend ausgegangen. Aber sie gingen miteinander durch Dick und Dünn. Und was taten Eltern früher in ihrer Freizeit? Sie unterstützten ihre Kinder bei außerschulischen Verpflichtungen. Heute haben wir unsere eigenen „Verpflichtungen“: Fitnessstudio, Tennis, Joggen, Maniküre und natürlich unsere Therapie.

Dass Therapeuten so viel Kundschaft haben, liegt vielleicht sogar daran, dass wir ständig mit uns selbst beschäftigt sind und zu oft an uns denken. „Ich habe Übergewicht, ich bin nicht fit, ich bin unerfüllt, ich bin deprimiert ...“ Wenn wir mehr an andere denken würden – zum Beispiel an die Familie und die Gemeinde -, wären wir wahrscheinlich seelisch gesünder.

Das Judentum lehrt, dass Opfer und Selbstlosigkeit Charakterzüge sind, die wir achten, bewundern und uns aneignen sollten. Die jiddische Mame der alten Zeit wird für unser Volk immer eine Heldin sein. Hören wir auf, ständig an uns und unsere Bedürfnisse zu denken, und fangen wir an zu überlegen, welche Aufgabe wir auf dieser Welt haben. Gebe G–tt, dass wir unser gesellschaftliches und familiäres Gleichgewicht aufrechterhalten können.

Mögen die Opfer, die wir bringen, unsere Nächstenliebe und unsere Spenden uns Segen in Form von Freude und wahrem Naches bringen!