Wie bringt man einem Freund bei, dass er Makel hat? Wie macht man einen Menschen auf seine Fehler aufmerksam ohne ihn dabei zu verletzten?
Vor dieser Frage stand auch Mose, als er das Volk Israel für seine Taten während der Wüstenwanderung tadeln wollte. Und er hat dies folgendermaßen sehr elegant gemeistert. Die tadelnden Worte Moses werden in dem ersten Vers unseres Wochenabschnitts gedeutet: Das sind die Reden ... in der Wüste, in den Steppen, Suf gegenüber, zwischen Paran und Tofel und Lawan und Chazerot und Di Sahaw. Alle im Vers erwähnten Ortsnamen weisen auf die verschiedenen Sünden hin, die das Volk begangen hatte, und einige Namen nehmen überhaupt keinen Bezug auf einen Ort, sondern sind nur Andeutungen für diverse Sünden.1
Der jüdische Rechtsanwalt
Einer der „Ortsnamen“ zum Beispiel lautet „Di Sahaw“. Nirgends sonst in der Thora kommt ein solcher Ortsname vor. Deshalb kommentiert Raschi, dass dieser Ausdruck auf die Sünde des Goldenen Kalbs hindeutet: „Er tadelte sie wegen der Sünde mit dem Kalb, welche sie wegen ihres vielen Goldes (Sahaw) begangen hatten!“
Mose zog es vor die Sünden Israels nicht ausdrücklich zu erwähnen, der Würde des Volkes wegen. Und er wollte den Kindern Israels nicht nur Erniedrigungen ersparen, sondern formulierte seinen Tadel mit einem Hauch an Verständnis für ihre Sünden.
Große Verführungen
Mit in der Wüste deutete Mose auf alle Missetaten des Volkes gegen G-tt während der Wüstenwanderung hin, aber drückte damit auch Verständnis für das schlechte Verhalten Israels aus. Denn die große, glühende Wüste, ein Ort voller Schlangen und Skorpione und unbändigem Durst, stellt den Menschen vor viele Prüfungen des Glaubens, die nicht leicht zu überwinden sind. Man muss die Lage des jüdischen Volkes verstehen. Beschwerden gegenüber G-tt, wie Wassermangel, sind Folgen der unerträglichen Umstände.
Weiters tadelt sie Mose in der Arawa: gemeint ist die Sünde Israels in den Steppen Moaws, als es die Töchter Moaws und ihre Götzen begehrte. Auch da zeigt Mose Verständnis für Israels Missetat. Das Volk Moaw entstammt der ältesten Tochter Lots, welche ihrer Unsittlichkeit wegen aller Welt verkündete, dass ihr Vater sie geschwängert hatte, indem sie ihren neugeborenen Sohn „Moaw“ nannte, was „mein Vater“ bedeutet.2 Die Steppen Moaws also sind ein Ort der Ausschweifung und Lust. Deshalb fiel es dem jüdischen Volk sehr schwer jener Versuchung zu widerstehen.
Die nächste Station war gegenüber Suf, was die Auflehnung des jüdischen Volkes vor dem Schilfmeer anspricht. Ohne Zweifel zeugte sie von einem geringen Vertrauen in G-tt, dennoch befand sich Israel in einer sehr brenzligen Lage, aus der es keinen Ausweg zu geben schien – hinter ihnen waren die Heerscharen der Ägypter und vor ihnen das Meer. Es war dieser Notzustand, welcher zur Meuterei gegen Mose führte.
Auf diese Weise nimmt Mose auch auf die Sünde des Goldenen Kalbs Bezug. Als er vor G-tt flehte, dem jüdischen Volk dieses große Vergehen zu vergeben, machte er sogar G-tt für das Versagen Israels verantwortlich: „Du, G-tt, brachtest sie dazu, durch all das Gold, das Du ihnen hast zu Teil werden lassen. Wie könnten sie da der Versuchung widerstehen und nicht sündigen!“ Mose stellte sich auf die Seite des Volkes „gegen G-tt“ und wirkte als Verteidiger Israels!
Menschenwürde
Nächstenliebe bedeutet nicht nur einen Menschen so zu lieben, wie er ist. Einen Menschen mit seinen Fehlern zu akzeptieren ist erforderlich, aber es dabei zu belassen wäre nicht fürsorglich. Die Sorge um den Mitmenschen drückt sich auch darin aus diverse Mängel bei ihm zu korrigieren. Deshalb gebietet uns die Thora unseren Nächsten auf seine schlechten Taten aufmerksam zu machen, damit er diese verbessert. Viele meiden dies, mit der Begründung den Betroffenen nicht verletzen zu wollen. Aus diesem Grund ist uns hier unser Lehrer Mose zuvorgekommen, mit einer lehrreichen Lektion in Sachen liebevollen Tadels.
(Likutej Sichot, Band 14, Seite 1)
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