Unser Wochenabschnitt wird jedes Jahr vor dem Fasttag des Neunten Aw rezitiert. Die dazugehörige Lesung aus dem Prophetenbuch1 beginnt mit den Worten Die Vision des Jesaja, Sohn des Amoz und handelt von der Prophezeiung der Zerstörung des Ersten Tempels. Davon kommt auch der besondere Name dieses Schabbats – „Schabbat der Vision“. Rabbi Lewi Itzchak von Barditschew2 gibt uns einen tieferen Einblick in die Bedeutung dieses besonderen Schabbats. „Denn an diesem Schabbat“, so lehrt er, „zeigt man jedem Juden von weiter Ferne den Dritten Tempel!“3

Die „Vision“ an diesem Schabbat handelt sowohl von der Zerstörung des Tempels als auch seinem Aufbau. Ähnliches erzählt uns der Midrasch: „Es stieg auf der „Löwe“ (Nebukadnezar) im „Monat des Löwen“ (Monat Aw) und zerstörte den „Löwen“ (Tempel), damit komme der „Löwe“ (G-tt) und den „Löwen“ aufbaue“.4 Der Midrasch sieht in dem Löwen sowohl den Zerstörer des Tempels als auch Seinen Wiedererbauer. Die Frage ist, weshalb mit ein und demselben Ausdruck zwei völlige Gegensätze verbunden werden.

Mit welchem Recht?

Doch vorher sollte eine noch viel grundlegendere Frage gestellt werden: Unsere Weisen lehren5, dass „G-tt sich an die Regeln der Thora, welche Er Israel gebietet, auch selbst hält (in Seinen Begriffen)“. An die Zerstörung des Tempels sind zwei ausdrückliche Verbote gebunden:

Erstens das Verbot der sinnlosen Zerstörung (Bal Taschchit) und zweitens das konkrete Verbot den Tempel zu beschädigen und umso mehr ihn zu zerstören (dasselbe gilt auch für Synagogen). Wie konnte G-tt Seine eigenen Regeln brechen?

Es reicht nicht aus zu erklären, dass der Tempel aus Strafe für die Sünden Israels zerstört wurde. Denn die Missetaten Israels sind keine Rechtfertigung dafür ausdrückliche Verbote der Thora zu übertreten! Sollten die Juden durch ihre Sünden jeglichen Anspruch auf einen Tempel verloren haben, könnte G-tt den Tempel auch begraben oder verschwinden lassen, wie Er es mit dem Stiftszelt getan hatte. Wozu ihn zerstören?

Um aufzubauen

In der Halacha stoßen wir auf einen äußerst interessanten Gesetzesschluss6: Es ist strengstens verboten eine Synagoge zu zerstören, es sei denn, man will stattdessen eine prachtvollere bauen – also nur, wenn die Zerstörung für den Bau eines noch ruhmvolleren G-tteshauses geschieht! Dieses Gebot „der Zerstörung für den Aufbau“ bezieht sich auch auf den Jerusalemer Tempel. G-tt wollte den Dritten Tempel erbauen, ein Heiligtum, das seine Vorgänger in den Schatten stellen wird; nur deshalb zerstörte Er den Ersten und Zweiten Tempel!

Das ist ein Elementarstein des jüdischen Glaubens. Die Zerstörung dient nur für den Aufbau, der Fall nur für den Aufstieg; universal ausgedrückt: Alles ist ausschließlich zum Guten! Die Zerstörung der Tempel dient nur der Verbesserung und Perfektion, so wie sie im Dritten Tempel zustande kommen! Einerseits trauern wir um ihren Verlust, doch zugleich begleitet uns der ständige Glaube an eine viel bessere Zukunft, welche gerade aus den Trümmern der Zerstörung aufblüht.

Willkommen, Maschiach!

So finden wir im Midrasch7, dass zur Zeit der Zerstörung des Tempels „der Erlöser Israels geboren wurde“, denn das ist ja der tiefe Sinn der Zerstörung und der Galut – der Dritte Tempel und die vollkommene Erlösung, die schon während der Zerstörung des Tempels ihren Anfang gefunden hatte!

Nun ist unsere Frage beantwortet, weshalb die Zerstörung und der Aufbau mit identischen Ausdrücken bezeichnet werden („Vision“, „Löwe“), denn in Wirklichkeit sind die Zerstörung Teil des Aufbaus und die Galut Teil der Erlösung!

Der Lubawitscher Rebbe verkündete immer wieder, dass die Welt schon für die vollkommene Erlösung bereit sei! Nun müsse man den Maschiach nur noch willkommen heißen – durch gute Taten und das Lernen und Erfahren über jenes faszinierende Zeitalter, die Ära des Maschiach!8

(Likutej Sichot, Band 29, Seite 9)