Kümmert es G-tt, wenn ich bei der Steuererklärung schwindle? Bin ich ein besserer Ehepartner, ein besserer Vater oder eine bessere Mutter, wenn ich koscher esse? Sind diese Fragen gleichwertig?

Nun, die 613 Mizwot der Tora werden meist in zwei Gruppen eingeteilt: 1. Gebote über die Beziehung „zwischen Mensch und G-tt“ (ben adam la-makom), 2. Gebote über das richtige Verhalten „unter den Menschen“ (ben adam la-chawero). Selbst die zehn Gebote wurden auf zwei separate Tafeln geschrieben. Die eine enthielt Gebote wie „Ich bin G-tt, euer G-tt“ und „Denkt an den Tag des Schabbats“. Die andere verkündete Gebote wie „Du sollst nicht töten“ und „Du sollst nicht stehlen“.

Aber ist diese Trennung zulässig? Prüfen wir einmal die Argumente.

Einerseits gibt es die beiden Tafeln (allerdings müssen wir erklären, wie „Ehre Vater und Mutter“ zu „zwischen Mensch und G-tt“ passt). Andererseits erzählt der Talmud von einem Mann, der zum Judentum übertreten wollte, zu Hillel ging und verlangte, dieser solle ihn die ganze Tora lehren, während er auf einem Bein stand. „Was du hasst“, sagte Hillel, „das tu deinem Nächsten nicht an. Das ist die ganze Tora; der Rest sind Kommentare.“ (Aber wieso ist das Anlegen der Tefillin ein Kommentar zu „Liebe deinen Nächsten“?) Zudem lesen wir im Sohar, G-ttes Gebot „Ich bin G-tt, euer G-tt ... Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“, sei die Essenz aller 613 Gebote und Verbote in der Tora. (Soll das heißen, dass ich G-ttes Einheit bekräftige und die Existenz aller anderen Götter neben ihm bestreite, wenn ich meinem Nachbarn helfe, sein Auto vom Schnee freizuschaufeln?)

Die Meister der mystischen Weisheit der Kabbala waren davon überzeugt, dass es keinen wesentlichen Unterschied zwischen „bürgerlichen“ und sogenannten „religiösen“ Gesetzen gibt. Jede Mizwa – sei es ein Krankenbesuch, sei es das Schwenken dem Lulaw an Sukkot – fördert den Fluss der Forderungen und Belohnungen zwischen G-tt und der Schöpfung. Dieser Strom sorgt für das Fortbestehen der ganzen Schöpfung und bewirkte, dass aus G-ttes Absicht, das Universum zu erschaffen, Realität wurde. Ein Verbrechen gegen G-tt (das den Strom unterbricht) ist demnach ein Verbrechen gegen seine gesamte Schöpfung, und ein Verbrechen gegen ein anderes Geschöpf ist (aus dem gleichen Grund) zugleich ein Verbrechen gegen G-tt. Wer zu seinem Nächsten gütig ist, ist auch gütig zu G-tt, weil er dazu beiträgt, seinen Schöpfungswillen zu verwirklichen. Eine positive „persönliche“ Beziehung zu G-tt hat eine positive Wirkung auf seine Beziehung zur Schöpfung als Ganzem und zu jedem Bewohner seiner Welt.

Warum also überreichte G-tt uns seine Tora auf zwei Tafeln? Vielleicht damit wir verstehen, dass das Leben zwei Seiten hat. Es ist keine ununterbrochene spirituelle Erfahrung und keine ausschließlich soziale Übung. Leben heißt, sich mit Menschen auseinandersetzen, aber auch, mit sich selbst reden. Es bedeutet meditieren und beten – und das Auto des Nachbarn freischaufeln.

G-tt ist das absolute Eine, und das Leben des Menschen ist das Bestreben, G-ttes Einheit auszudrücken. Aber wahre Einheit ist nicht Gleichheit. Wahre Einheit toleriert, ja begrüßt viele, sogar gegensätzliche Teile. Denn es gibt keinen großartigeren Ausdruck der Einheit als die Fähigkeit, Gegensätze zu sehen, die sich ineinander spiegeln. Darum teilte G-tt seinen Bauplan des Lebens in eine Säule namens „zwischen Mensch und G-tt“ und eine Säule „zwischen Mensch und Mensch“.

Dann verlieh er uns die Fähigkeit, beide Seiten zu sehen, die sich in einander widerspiegeln; die Not eines Mitmenschen in den Seiten unseres Gebetsbuches zu entdecken; und G-ttes Antlitz im gemurmelten Dank eines Bettlers, in der staunenden Frage eines Kindes oder in den vertrauensvollen Augen eines geliebten Menschen zu sehen.