Im August 1975 fuhr ich anlässlich einiger Geschäftstreffen nach Detroit.

Ich kam Dienstagvormittag an, war den ganzen Tag über beschäftigt und abends bei einem der Geschäftspartner eingeladen, den ich auf dem Treffen kennen gelernt hatte. Seine Familie gehörte zur örtlichen Lubawitscher Gemeinde.

Gastgeber laden meist mehrere Gäste ein. So wendete sich bei meinem Gastgeber - ohne meine Initiative - das Gespräch bald der Religion zu und einer der anwesenden Männer stellte scheinbar lustige Fragen über Tefillin, z.B.: “Warum können sie nicht rund sein?” “Wer hat beschlossen, dass sie schwarz sein müssen?” Der “Abend” dehnte sich bis 2 Uhr morgens. Beim Verabschieden fragte ich den Mann: ”Sie scheinen ein besonderes Interesse an Tefillin zu haben. Oder warum haben Sie all diese Fragen gestellt?”

“Ich habe seit über 20 Jahren keine Tfeillin mehr angelegt!” antwortete er.

“Aber Sie sollten!” erwiderte ich.

Daraufhin sagte er: “Alle von uns hier gehen jetzt nach Hause, um zu Schlafen. Aber für mich fängt jetzt die Arbeit an. Ich besitze eine Bäckerei und wir arbeiten die Nacht hindurch. Wenn Sie unbedingt wollen, dass ich Tefillin anlege, sind Sie herzlich eingeladen, um 6:30 Uhr zu meiner Bäckerei zu kommen. Zu dieser Zeit machen wir Pause und ich kann Tefillin anlegen.”

Das traf zwar, offen gesagt, nicht gerade meinen Geschmack. Da ich aber unmöglich ablehnen konnte, kam ich am nächsten Morgen um 6:30 Uhr mit Tefillin, Gebetsbuch und Kippa in seine Bäckerei, und er legte zwischen Mehlsäcken Tefillin an. Zu meiner großen Überraschung bedurfte er keinerlei Hilfe: Er wusste genau, was zu tun und zu sagen war.

Ich sagte, nachdem er fertig war: “Sie scheinen genau zu wissen, wie Tefillin anlegt und welche Segenssprüche und Gebete dabei gesagt werden. Warum machen Sie das dann nicht regelmäßig?” Er erzählte mir, dass er weder Tefillin besäße, noch dass er seine erste Priorität darin sähe, sie zu erwerben. Falls ihm jemand welche schenken wollte, würde er sie regelmäßig anlegen. Ich erwiderte, dass ich jetzt über New York nach England zurückfliege, ihm aber Tefillin mitbringen würde, wenn ich in ca. sechs Wochen wieder nach Detroit komme.

Am Abend desselben Tages flog ich nach New York und verbrachte die Nacht in Crown Heights. Am Donnerstagmorgen betete ich mit dem Rebben und ließ ihm einen Zettel übergeben. Ich berichtete dem Rebben über die Geschäftsdebatten und über den Mann mit den Tefillin. Ich endete mein Briefchen mit der Bemerkung, dass ich heute Abend, also Donnerstagnacht, mit besonders freudiger Erwartung auf Schabbat nach England zurückflöge, da die gesamte Familie in unserem Haus versammelt sein würde: Meine Tochter mit Mann und drei Kindern aus London; meine andere Tochter mit Mann und Baby aus New York; mein in Israel studierender Sohn, der auf dem Weg nach New York zu Hause vorbeikommt. Das wäre das erste Mal, das unsere gesamte Familie, mit allen Enkeln, einen Schabbat zusammen verbringen würde.

Nach dem Gebet begab ich mich nach Manhattan in der Absicht, rechtzeitig zum Nachmittagsgebet mit dem Rebben nach Brooklyn zurückzukommen und anschließend zum Flughafen zu fahren, um meine Heimreise anzutreten.

Als ich kurz vor dem Nachmittagsgebet zum Hauptsitz des Rebben nach 770 Eastern Parkway zurückkehrte, berichtete mir der Sekretär, mich bereits gesucht zu haben, da er eine Antwort vom Rebben für mich hätte.

Darin gab mir der Rebbe seinen Segen für die Geschäftsdebatten, schrieb aber im folgenden: “Halten Sie es für richtig, dass ein Jude, der gestern das erste Mal nach 20 Jahren wieder Tefillin angelegt hat, weitere sechs Wochen wartet und diese Mizwa aufschiebt, bis Sie ihm Tefillin besorgen? Sie sollten heute noch Tefillin für ihn besorgen und wenn Sie es so einrichten können, dass er sie noch heute anlegen kann, ist alles gut. Falls nicht, sollten Sie persönlich mit den Tefillin nach Detroit zurückkehren und dafür sorgen, dass er sie noch rechtzeitig anlegen kann. Sie sollten das tun, sogar wenn Sie deshalb auf den Schabbat mit ihrer Familie verzichten müssen.” Der Rebbe fügte hinzu: “Wenn dieser Jude sieht, wie wichtig es Ihnen ist, dass er nicht einen einzigen Tag versäumt, Tefillin anzulegen, wird diese Mizwa für ihn besonders wertvoll sein.”

Diese Aufforderung des Rebben brachte einige Probleme mit sich. Genau zu dieser Zeit führte England seine Kurskontrollen durch, so dass jeder nur sehr wenig Bargeld ins Ausland mitnehmen durfte. Auch war mein Bargeld fast völlig aufgebraucht und reichte nicht für ein neues Flugticket. Das nächste Problem bestand in der Beschaffung der Tefillin in Crown Heights. Mein erster Versuch war im Lubawitscher Jugendamt, wo es aber keine gab. Auch bei meinem nächsten Versuch bei “Drimmers”, einem Laden für jüdische Kultgegenstände, waren Tefillin ausverkauft. Schließlich gelang es mir, das letzte vorrätige Paar Tefillin in einem Laden an Kingston Avenue per Scheck zu kaufen. Daraufhin regelte ich mit American Airlines ihren Transport und verabredete mit meinem Gastgeber von Dienstagabend, dass er sie am Flughafen abholen und dem Adressaten rechtzeitig vorbeibringen würde. Einer der Jeschiwa Schüler fuhr mich zum La Guardia Flughafen und ich brachte die Tefillin zum Flugzeug nach Detroit.

Erst nachdem ich dem Rebbe davon berichtet und die Bestätigung erhalten hatte, dass die Tefillin in Detroit abgeholt und an der richtigen Adresse abgeliefert wurden, begab ich mich auf den Weg nach London.

Als ich ein paar Monate später wieder in Detroit war, traf ich den Mann und fragte ihn, wie es ihm mit den Tefillin gehen würde. Er versicherte mir, nicht einen einzigen Tag verpasst zu haben, sie anzulegen. Er sei sogar eines Tages, als sein Auto versagt hatte, im Schnee nach Hause gelaufen, um sie noch vor Sonnenuntergang anlegen zu können. Er sagte: “Wegen Ihrer Sorge, dass ich unverzüglich die Tefillin erhalten sollte, liegen sie mir besonders am Herzen.”

Das waren fast exakt die gleichen Worte, die der Rebbe mir geschrieben hatte.