Eines Tages rief Rabbi Israel Baal Schem Tow einen seiner Chassidim zu sich und fragte ihn: „Willst du lernen, ein frommer Mann zu werden?“ „Ja, Rebbe“, antwortete der Chassid.

„In einer Gasse im Hafenviertel von Odessa lebt ein Docker. Geh zu ihm. Bei ihm lernst du, was Frömmigkeit ist.“

Der Chassid reiste nach Odessa und fand den Mann, den der Rebbe ihm beschrieben hatte. Der Mann nahm ihn für einen bescheidenen Geldbetrag einige Wochen auf, und der Chassid bereitete sich darauf vor, seinen frommen Wirt zu beobachten. Aber wenn er stundenlange Gebete am Morgen erwartet hatte, gefolgt von nächtlichem Studium bei Kerzenschein, wurde er enttäuscht. Sein Wirt entpuppte sich als schlichter, ungebildeter Jude, der jeden Morgen früh aufstand, einfach und schnell betete und zur Arbeit aufs Dock ging. Am Abend kam er zurück, sprach das Abendgebet, aß sein einfaches Mahl und ging schlafen. So verging ein Tag nach dem anderen, und der Chassid wurde nicht klüger, sondern langweilte sich. Die Dachkammer des Arbeiters war spärlich möbliert, und das einzige Fenster war eine kleine Scheibe hoch oben in der Wand.

Eines Tages, als der Mann bei der Arbeit war, stieg der nervöse und neugierige Chassid auf einen Tisch und schaute aus dem Fenster. Er sah einen Hinterhof, wo sich zu seiner Entrüstung den ganzen Tag Verbrecher trafen. Als sein Wirt nach Hause kam, fragte ihn der Chassid: „Sag mir, wie kann ein Jude neben solchen Nachbarn wohnen? Hast du keine bessere Unterkunft gefunden?“

Jetzt war der Docker empört. „Ich wohne hier seit zwanzig Jahren“, sagte er. „Und ich kam nie auf den Gedanken, in den Hof von Fremden zu schauen, um zu erfahren, was sie tun. Du hingegen bist erst seit ein paar Tagen hier und kletterst schon auf einen Tisch, um jeden Sünder in der Nachbarschaft zu erspähen!“