IV. Die letzten Worte, mit denen wir die Tora an Simchat Tora abschließen, lauten: „vor den Augen von ganz Israel.“1 Diese Worte spielen auf das Prinzip der Einheit aller Juden an, die miteinander vereint sind (was die Awoda von Simchat Tora ist). Alle Juden zusammen bilden eine Einheit, wobei jeder Einzelne nur ein Teil eines Ganzen ist.2 Auf einer tieferen Ebene ist jeder Einzelne ein Teil der Essenz, was bedeutet, dass sich die gesamte Substanz aus jedem Teilchen zusammensetzt, wie der Baal Schem Tow lehrte: Wie verhält es sich mit der „Essenz“? – Wenn man ein Teilchen davon ergreift, hat man das Ganze ergriffen.3

Dies erklärt die Mizwa „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“4, was dem einfachen Wortsinn nach buchstäblich bedeutet: „wie dich selbst.“ Die Selbstliebe ist von keinem Grund abhängig; sie ist ganzheitlich, selbständig. So muss auch die Liebe zu einem anderen eine ganzheitliche, auf sich selbst bezogene Liebe sein.

Das wirft unwillkürlich die Frage auf, wie das möglich ist. Schließlich sind der „andere“ und ich zwei verschiedene Wesen! Im Zusammenhang mit dem oben Gesagten ergibt sich jedoch, dass es sich in Wirklichkeit nicht um die Liebe zu einem anderen, sondern zu sich selbst handelt. Es gibt nur eine einzige Substanz, die sich in einer Anzahl von Teilchen manifestiert, aber aus jedem dieser Teilchen setzt sich eben diese Substanz zusammen.

Dies erklärt auch die Lehre des Baal Schem Tow, dass Ahawat Jisrael bedeutet, auch einen Juden zu lieben, den man nie gesehen oder von dem man nie gehört hat.5

Man könnte sich fragen, wie es möglich ist, etwas zu lieben, von dem man überhaupt keine Kenntnis hat. Wenn man jedoch bedenkt, dass alle Juden eine einzige Substanz sind, kann man dies leicht verstehen.

V. Dies erklärt die Aussage unserer Weisen, dass Ahawat Jisrael die Grundlage der gesamten Tora ist.6 Denn wie im Buch Tanja ausführlich dargelegt wird,7 besteht die Grundlage der gesamten Tora darin, die Seele über den Körper zu erheben und zu erhöhen, und dies drückt sich in Ahawat Jisrael aus.

Wenn die Betonung auf dem Selbst liegt und man sich selbst als eigenständige Realität betrachtet, kann man einen anderen nicht „wie sich selbst“ lieben. Um „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ zu verwirklichen, muss man über seine eigene Realität hinausgehen, indem man sie nicht als etwas Abgegrenztes, als ein separates „Ich“ betrachtet, sondern als einen Teil der Substanz Israels. Auf diese Weise wird man wahre Ahawat Jisrael erreichen.

Dies ist die ethische Lektion aus einer Geschichte, die der Rebbe [mein Schwiegervater] einmal über einen großen Rabbiner erzählte, der bitterlich weinte, als sein Kind krank war. Später ärgerte er sich sehr über sich selbst, wenn er daran dachte, dass er bei dem Kind eines anderen nicht so sehr berührt gewesen wäre. Dies bewies ihm, dass seine Awoda nur ein Vorstadium war, denn wäre es eine wahre Awoda gewesen, hätten ihm Tora und Mizwot die Essenz der Seele offenbart, in der alle Juden eine Einheit sind.

VI. Wir können nun auch die liturgische Formulierung „Sie alle werden zu einer einig-verbundenen Gemeinschaft, um Deinen Willen von ganzem Herzen auszuführen“8 verstehen: „Sie alle“ können zu einer „einig-verbundenen Gemeinschaft“ werden, wenn es darum geht, „Deinen Willen auszuführen.“ Ein Zusammenschluss zu anderen Zwecken, auch wenn diese legitim sein mögen, wird nicht zu einer „einig-verbundenen Gemeinschaft“ führen, und zwar aus folgenden Gründen:

a) Alle sind von Natur aus unterschiedliche Individuen. Ein gemeinsames Interesse verbindet sie in Bezug auf die ihnen innewohnenden Fähigkeiten und Anliegen, die zur Erreichung des Ziels ihrer Vereinigung unerlässlich sind. In Bezug auf ihre anderen Aspekte, geschweige denn in Bezug auf ihr Wesen, sind sie jedoch überhaupt nicht miteinander verbunden.

b) Selbst in Bezug auf dieses spezifische Ziel handelt es sich nicht um eine wirklich wahre Einheit. In ihrer allgemeinen Realität bleiben sie alle unterschiedliche Individuen. Selbst in Bezug auf das spezifische Ziel ihres gemeinsamen Interesses ist jeder durch seine persönliche Realität und seine persönlichen Gefühle motiviert. Nur äußerlich, bei der Arbeit an ihrem gemeinsamen Ziel, sind sie gleichermaßen beteiligt. [So wird von der Formulierung „der Streit von Korach und seiner ganzen Rotte“9 gesagt, dass sie die Uneinigkeit zwischen Korach und seiner Rotte bedeutet.10 Sie waren sich in ihrer Rebellion einig, aber in Wirklichkeit waren sie gespalten, weil jeder seine persönlichen Ziele verfolgte.]

c) Selbst der äußere Anschein von Einheit ist nur vorübergehend. Die Mitglieder der Vereinigung behalten ihre persönlichen Interessen und Realitäten, die die Interessen der Gruppe als Ganzes überlagern. Wenn die gemeinsamen Interessen mit den persönlichen kollidieren, trennen sich die Mitglieder und lösen damit auch die äußere Vereinigung auf.

Dies zeigt sich empirisch bei einer Reihe von Organisationen, die als starke Verbände erschienen: Da sich die Mitglieder untereinander nicht einigen konnten, fiel der Zusammenschluss auseinander und es blieb nichts von ihm übrig.

Wenn man also eine Vereinigung zu freiwilligen Zwecken gründen möchte, gibt es einen Weg, um ihre Dauerhaftigkeit zu gewährleisten: Man sollte einen Aspekt von Tora und Mizwot in das Programm als Grundlage für die Vereinigung aufnehmen. Dies wird auch den freiwilligen Zielen der Vereinigung Dauerhaftigkeit verleihen.

VII. In diesem Zusammenhang können wir die Metapher verstehen, die das jüdische Volk mit „einem einzigen Schaf unter 70 Wölfen vergleicht, das dennoch bewahrt wird“11 : Jeder der 70 Wölfe ist eine separate Einheit, aber das jüdische Volk ist vereint, und das verleiht ihm eine außerordentliche Stärke. Dasselbe gilt für den inneren Zustand des jüdischen Volkes selbst: Die negativen Elemente bilden keine Mehrheit. Hierbei werden nicht einmal zwei Leute zusammengezählt, denn jeder ist eine separate Einheit.12 Was jedoch diejenigen betrifft, die Tora und Mizwot befolgen, so ist jeder, auch wenn er allein in seiner Gemeinde ist, mit allen Juden seit der Zeit von Matan Tora verbunden und bildet somit die mächtige Kraft eines großen Lagers, das für die Tora kämpft.

VIII. Wir können nun die Abfolge der Worte „vor den Augen von ganz Israel“ und der unmittelbar danach gelesenen Worte verstehen: „Im Anfang schuf G-tt ...“13 (denn unmittelbar nach dem Ende der Tora beginnen wir wieder von vorne14 ), ebenso die Abfolge (der Worte „vor den Augen von ganz Israel“) mit dem vorherigen Beginn dieser letzten Parascha – „WeSot haBeracha – Und dies ist der Segen ...“15

„Im Anfang schuf G-tt die Himmel und die Erde“ bedeutet, dass ein Jude sich bewusst sein muss, dass „die Himmel“, d. h. alle geistigen Realitäten, und „die Erde“, d. h. alle materiellen Dinge, von G-tt geschaffen wurden.16 Man soll sich nicht einbilden, dass „meine Kraft und die Macht meiner Hand mir diesen Reichtum verschafft hat.“17 Man muss erkennen, dass man nichts aus sich selbst heraus hat. Alles, was man hat, ob materiell oder geistig, hat man dadurch erhalten, dass der Allmächtige die gesamte Schöpfung im Allgemeinen und jeden Segensfluss auf ihn im Besonderen in jedem einzelnen Augenblick ins Leben gerufen hat.18

Die Worte „WeSot haBeracha – das ist der Segen, mit dem Mosche segnete“ – spielen auf Folgendes an:

Mosche ist der Hirte Israels.19 Er ist ihr Oberhaupt, um sicherzustellen, dass sie sich in allem so verhalten, wie es sich gehört, und durch ihn werden ihnen alle ihre Bedürfnisse zuteil.20

So sagten unsere Weisen, dass das Manna durch Mosche herab kam.21 Auch die „Wolken der Herrlichkeit“, die ursprünglich durch Aaron kamen, und der Wasserbrunnen, der durch Mirjam kam, wurden [nach dem Tod von Aaron und Mirjam] durch den Verdienst Mosches wiederhergestellt.22 In der Tat erfolgte auch ihre ursprüngliche Erscheinung durch den Verdienst Mosches, nur dass sie durch Aaron und Mirjam kanalisiert wurde. Denn ein „Hirte Israels“ ist derjenige, der Israel mit all seinen Bedürfnissen versorgt, seien sie nun materiell oder geistig.23

Damit man jedoch in der Lage ist, den Segensfluss von Mosche, dem „Hirten Israels“, zu empfangen – und von seiner Ausstrahlung in jeder Generation24 –, muss man sich ihm unterwerfen und sich mit ihm verbinden. Es muss eine Unterwerfung wie die der Herde unter ihren Hirten geben: Die Herde hat keine eigenen Wünsche, sondern folgt den Anweisungen ihres Hirten. Wenn man keinen eigenen Willen hat, weder in irdischen noch in Himmlischen Dingen, und sich ganz Mosche unterwirft, wird man ein Gefäß für den Segen: „Das ist der Segen, mit dem Mosche gesegnet hat ... mit den herrlichen Dingen des Himmels (d. h. geistiger Überfluss) und mit der Tiefe, die unten liegt (d. h. materieller Überfluss).“25

IX. Dies ist also der Zusammenhang zwischen „Im Anfang ...“ bzw. „Dies ist der Segen ...“ und „vor den Augen von ganz Israel.“ Denn echte Ahawat Jisrael – „ganz Israel“ – [wie oben erwähnt26 ] entsteht, wenn man aus sich selbst heraustritt.

Wenn man die Wahrheit erkennt, dass man nichts von sich selbst hat, dass alles vom Allmächtigen kommt, der „in Seiner Güte täglich, unablässig das Schöpfungswerk erneuert“27 [das Konzept von „Im Anfang schuf G-tt ...“], und sich so Mosche und seiner Ausstrahlung unterwirft [das Konzept von „Dies ist der Segen ...“], tritt man aus seiner eigenen Realität heraus. Man ist nicht länger eine eigenständige Einheit, sondern ein Teilchen der Gesamtheit Israels [das Konzept von „ganz Israel“].

X. Die Verbindung zwischen „vor den Augen von ganz Israel“ und „Im Anfang schuf G-tt“ ist zweifach: So wie das Konzept von „Im Anfang schuf G-tt“ die Awoda von „ganz Israel“ anregt, so bereitet uns das Konzept von „ganz Israel“ auf „Im Anfang ...“ vor.

Jeder Jude soll die Tora an Simchat Tora vollenden und sofort damit beginnen, sie auf einer höheren Ebene neu zu studieren.28 Wenn man seinen eigenen Status und Zustand im vergangenen Jahr betrachtet, könnte man zu dem Schluss kommen, dass man alles andere als fertig ist, und seine Bereitschaft für diese Verpflichtung in Frage stellen. So wird ihm gesagt – „ganz Israel“:

Als Einzelner ist er vielleicht nicht in der Lage, das Studium und die Befolgung der gesamten Tora zu vollenden. Daher wird ihm geraten, sich mit anderen Juden zusammenzuschließen, diejenigen zu unterstützen, die sich dem Tora-Studium widmen, was ihm einen Anteil an ihrem Tora-Studium geben wird. Dies zeigt sich in der Aussage unserer Weisen,29 die auch eine halachische Regel ist,30 dass Sewuluns Unterstützung von Jissachar ihm einen Anteil an der von Jissachar studierten Tora gab.

XI. Diese Form des „Teilens der Tora“ gilt für jemanden, dessen Beschäftigungen ihn daran hindern, sich wirklich dem Studium zu widmen, indem sie ihn auf das Minimum „ein Kapitel am Morgen und ein Kapitel am Abend“ beschränken.31

Was ist mit demjenigen, der nicht einmal in seiner Freizeit studiert hat? Auch er sollte die Hoffnung nicht verlieren. Unsere Rebbes lehrten uns, dass wir an Simchat Tora durch Freude das Gleiche erreichen können, was an Rosch haSchana und Jom Kippur durch „Bitternis des Herzens“ erreicht wird.32 Mit anderen Worten, der Monat Elul, die Tage von Selichot, Rosch haSchana, die „Zehn Tage der Umkehr“ und Jom Kippur sind bereits vergangen, und, G-tt bewahre, auch während Ne-ila, am Ende von Jom Kippur, hat er keine Teschuwa getan. Dennoch kann er an Simchat Tora in einem Zustand der Freude Teschuwa tun, und zwar „vor ganz Israel“, um mit Israel verbunden zu werden. Diese Verbindung kommt durch das Hervortreten des innersten Kerns der Seele zustande, denn „die Seelen sind alle von der gleichen Art“ und bewirken so echte Ahawat Jisrael.33 Der Kern der Seele bleibt für immer intakt, und das macht es möglich, die Tora noch einmal von vorne zu beginnen, und zwar auf einer noch höheren Ebene.

XII. Das Konzept „vor den Augen von ganz Israel“ ermöglicht es jedem, die Tora noch einmal von vorne zu beginnen. Wie verhält es sich mit dem Konzept von „Im Anfang schuf G-tt ...“?

Das Wort Bara (Er schuf) bedeutet Manifestation (Offenbarwerden).34 Der Vers „Im Anfang Bara Elokim die Himmel und die Erde“ ist also wie folgt zu lesen: „Bereschit (im Anfang)“ – der Anfang der Awoda ist „Bara“, um „Elokim“, die Gegenwart G-ttes, in „Et haSchamajim“, in den Himmeln und all ihren Heerscharen, und in „Et haArez“, in der Erde und all ihren Heerscharen, offenbar werden zu lassen.35

Alle Geschöpfe, ob sie nun zu den Heerscharen des Himmels oder zu den Heerscharen der Erde gehören, sind im Besitz einer G-ttlichen Kraft und Vitalität, die sie ins Dasein ruft und sie fortwährend belebt und erhält.36 Diese G-ttliche Vitalität ist die letzte und totale Realität eines jeden Geschöpfes. Sie ist jedoch verborgen, und das führt dazu, dass das Geschöpf denkt, es sei selbst eine eigenständige Einheit. Der Beginn der Awoda besteht daher darin, die G-ttliche Lebenskraft manifest werden zu lassen, das Konzept von Bara.

Jedes Geschöpf hat diese G-ttlichkeit, wenn auch verborgen, also sicher auch jeder Jude. Im Juden ist es die Neschama, die G-ttliche Seele, die „buchstäblich ein Teil G-ttes von droben“ ist.37 Da die Neschama jedoch in einen Körper und eine „tierische Seele“ gehüllt ist, können der Körper und die „tierische Seele“ das Licht der Neschama verbergen und behindern, bis hin zum Kampf gegen sie.

So muss man sein eigenes „Im Anfang Bara Elokim“ bewirken, um seine Neschama zu offenbaren, damit sie aus dem „Gefängnis“ des Körpers und der tierischen Seele hervortritt und sich in ihrer wahren Realität manifestiert. Es reicht nicht aus, die offensichtlichen Seelenkräfte der Neschama zu manifestieren. Man muss auch die eigentliche Essenz der Neschama manifestieren, die mit der höchsten Essenz verbunden ist. Die Manifestation des Wesens der Neschama wird darin gesehen und bewiesen, dass man seinen Nächsten liebt wie sich selbst, d. h. das Konzept von „vor den Augen von ganz Israel.“

Das persönliche Bara Elokim befähigt einen, auch die Güte in der Welt als Ganzes zu manifestieren, in den Heerscharen des Himmels und in den Heerscharen der Erde, so dass alles klar spüren wird, dass seine gesamte Realität nichts anderes als G-ttlichkeit ist, wie es heißt: „Es gibt nichts sonst außer Ihm.“38

(Adaptiert aus einer Sicha gehalten an Simchat Tora 5718)