IX. Heute ist Chai Elul (der 18. Tag des Monats Elul). Der Rebbe, mein Schwiegervater, zitierte ein Sprichwort älterer Chassidim, das besagt, dass Chai Elul „Lebenskraft in den Elul bringt.“1 Elul bedeutet die Korrektur des vergangenen Jahres, um so ein gutes und süßes neues Jahr zu verdienen. Chai Elul bedeutet also, diese Awoda mit Lebenskraft zu erfüllen. Es reicht nicht aus, eine oberflächliche Awoda zu vermeiden, wie „ein auswendig gelerntes Gebot der Menschen“2, denn selbst wenn die Awoda mit Vorbereitung und Absicht erfolgt, könnte sie ohne Vitalität sein. Chai Elul bewirkt, dass sie lebendig und temperamentvoll ist.
Chai Elul ist der Geburtstag des Baal Schem Tow.3 Der Rebbe, mein Schwiegervater, sagte, es sei nicht nur der Geburtstag seines Körpers, sondern auch der seiner Seele.4 Es ist auch der Tag, an dem Jahre später der Baal Schem Tow offenbart wurde,5 und markiert somit die Offenbarung der allgemeinen Chassidut.
Danach kam der Alte Rebbe und brachte Chassidut auf eine Ebene des Verstehens und rationalen Begreifens. Dies ist die Schule des Chabad-Chassidismus. Auch er wurde am Chai Elul geboren.6 Der Chai Elul, der die Offenbarung der Lehren der allgemeinen Chassidut und der Lehren der Chassidut Chabad kennzeichnet, verleiht somit allen Aspekten der Awoda des Elul Vitalität; und Vitalität ist bekanntlich mit Freude verbunden.
X. Die Awoda von Elul bezieht sich zwar auf Teschuwa, was Reue für die Vergangenheit und feste Vorsätze für die Zukunft bedeutet.7 Diese Awoda beinhaltet Merirut (Bitternis und Trauer).8 Wie kann sie dann mit Simcha (Freude), ihrem genauen Gegenteil, einhergehen?
Die Antwort zeigt sich, wenn man die Anweisung des Rambam9 betrachtet, dass jede Mizwa mit Freude befolgt werden muss, weil sie den Willen des Schöpfers erfüllt. Rambam leitet dies aus dem Vers ab: „Weil du dem Ewigen, deinem G-tt, nicht mit Freude gedient hast ...“10 Da die Teschuwa selbst eine Mizwa ist,11 muss auch sie mit Freude getan werden.12 In diesem Fall wäre die Freude jedoch ein Nebeneffekt: Sie kommt nicht von der Mizwa selbst, sondern von der Tatsache, eine Mizwa zu tun. Man würde sich also über die Erfüllung des G-ttlichen Willens freuen.
Chai Elul (d. h. die Lehre der Chassidut) bewirkt jedoch, dass die Teschuwa – die im Allgemeinen mit Merirut verbunden ist – selbst Simcha haben sollte. Chai Elul bedeutet Vitalität im Aspekt von Elul selbst. Und diese Simcha steht nicht im Widerspruch zu Merirut.
So sagt der Alte Rebbe im Tanja13 in Bezug auf die Teschuwa, dass „Tränen auf der einen Seite in meinem Herzen und Freude auf der anderen Seite in meinem Herzen sein müssen.“14 Diese beiden gegensätzlichen Stimmungen können gleichzeitig in ein und derselben Sache sein. Er kommt zu dem Schluss, dass man selbst dann, wenn man „den Jezer Tow gegen den Jezer haRa aufstachelt“15 und sich im Zustand von Merirut befindet, der durch die tierische Seele bedingt ist, auch Freude empfinden muss, weil man die Realität der G-ttlichen Seele16 spürt und das absolute Vertrauen hat, dass „der Verbannte sicherlich nicht von Ihm verbannt bleiben wird.“17 „[Sie werden das Land erben] für immer, sie sind der Zweig Meiner Pflanzung, Meiner Hände Werk zur Verherrlichung“18 – was sicherstellt, dass „ganz Israel Anteil an der kommenden Welt hat.“19
Daraus folgt, dass diese Freude von der Teschuwa selbst herrührt. Im Zustand von Teschuwa selbst, mit seiner Merirut und dem „Aufstacheln gegen den Jezer haRa“, ist man freudig aufgrund der Tatsache, dass die G-ttliche Seele zu G-tt zurückkehrt.
XI. Von Chai Elul bis Rosch haSchana sind es 12 Tage. Der Rebbe, mein Schwiegervater, sagte dazu, dass es sich um 12 Tage der Besinnung und des Rückblicks auf das vergangene Jahr handelt, einen Tag für jeden Monat.20
Es wurde bereits21 auf das Konzept der „zehn Stufen der Heiligkeit“22 verwiesen, die sich auf die Konzepte „Welt, Jahr und Seele“ beziehen.23 Diese Stufen finden sich auch in der Tefilla (Gebet) wieder, die eine „Leiter ist, die in der Erde steht und deren Spitze in den Himmel reicht.“24 Im Allgemeinen bezieht sich dies auf die Unterscheidung zwischen den täglichen Gebeten während der Woche, die Bitten für alle menschlichen Bedürfnisse enthalten, und den Gebeten am Schabbat, die im Wesentlichen Lobpreisungen G-ttes sind.25
Ähnlich verhält es sich mit der Tora, bei der wir unterscheiden zwischen (a) Galja (der exoterischen Dimension) der Tora – die als „Baum [der Erkenntnis] von Gut und Böse“ bezeichnet wird, weil sie sich mit der physischen Realität befasst, die dem Prozess von Birurim [Aussieben und Läutern] unterliegt; und (b) Pnimijut (der esoterischen „inneren“ Dimension) der Tora, die sich ausschließlich mit G-ttlichkeit befasst.26
Die wichtigste Erforschung der Seele in den 12 Tagen zwischen Chai Elul und Rosch haSchana muss sich auf Pnimijut haTora beziehen. Gewiss, es muss eine ordentliche Rechenschaftslegung in Bezug auf alle 613 Mizwot geben, die alle Details und Nuancen umfasst. In der Tat ist „die Praxis (das Handeln) die Hauptsache.“27 Allerdings sollte man mit dieser Rechenschaftslegung vor Chai Elul fertig sein. Ab Chai Elul – dem Tag, an dem die Lehren der Chassidut offenbart wurden – gilt es, in einer Geisteshaltung von „Worauf war dein Vater am meisten Sahir (worauf hat er am meisten geachtet)?“28 : Sahir als Ausdruck von Sohar (Leuchtkraft, strahlende Helligkeit), damit es die Gesamtheit dieser Person erleuchtet und erhellt.29 Die Hauptvitalität und Erforschung der Seele muss sich also auf Pnimijut haTora beziehen, nicht nur in Bezug auf das Studium, sondern auch auf das persönliche Verhalten in Übereinstimmung mit Chassidut, denn „bedeutender ist das Tora-Studium, weil es zur Tat führt.“30
Dies wiederum wird auch das Erforschen der Seele in Bezug auf alle persönlichen Aspekte beleuchten und erhellen. In der Tat wird diese Art der Rechenschaftslegung die positiven Unternehmungen für die Zukunft bewirken und dazu führen, dass „deine Quellen Chuza (auf die Fluren, nach außen) überströmen werden“31, sowohl in Bezug auf seine persönliche Chuza als auch die buchstäbliche Chuza,32 wodurch „das Kommen des Meisters“33, d. h. des Königs Maschiach, in unseren Tagen rasch herbeigeführt wird.
(Adaptiert aus einer Sicha gehalten am Schabbat Paraschat Tawo 5716)
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