XXI. Unsere Weisen sagen:1 „Wenn du dich um des Armen willen und für die Erfüllung eine Mizwa eifrig anstrengst und freigebig austeilst (wörtlich: wenn du deinen Fuß ausgestreut hast), wirst du in dir erfüllt haben: ‚Du bist gesegnet in deinem Kommen und du bist gesegnet in deinem Gehen.‘“2
Die Wortwahl in den Aussagen unserer Weisen ist erklärungsbedürftig:
a) Die Formulierung „um des Armen willen“ bezieht sich offensichtlich auf Zedaka (Wohltätigkeit). Warum wird dann sowohl auf „den Armen“ als auch auf „eine Mizwa“ Bezug genommen? Zedaka ist ein integraler Bestandteil der Mizwot! Tatsächlich finden wir im Jeruschalmi (Jerusalemer Talmud) überall, dass Zedaka einfach als „Mizwa“ bezeichnet wird!3
Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass unsere Aussage darauf anspielen will, dass Zedaka wie alle Mizwot ist, das heißt „gleichwertig mit allen Mizwot zusammen.“ Aber dies wird bereits im Talmud ausdrücklich gesagt;4 warum dann hier eine Anspielung darauf?
b) Anstatt von „Füßen“ zu sprechen, scheint es angemessener zu sein, einen Ausdruck wie „gehen“ oder „laufen“ zu verwenden.5 Welche Bedeutung hat der Begriff „den Fuß ausstreuen“?
XXII. Der menschliche Körper wird im Allgemeinen in drei Teile unterteilt: Kopf, Körper und Füße. Genauer gesagt teilt er sich in 248 Organe.6 Auch die Gebote der Tora enthalten 248 positive Vorschriften.
[Sefer Charedim teilt die verschiedenen Mizwot in Gruppen ein, die den Körperorganen entsprechen, und gibt für jede Mizwa das jeweilige Organ an, auf das sie sich bezieht.]
Die 248 Gebote lassen sich im Allgemeinen in drei Kategorien einteilen:
a) Es gibt Mizwot, die sich auf den Verstand beziehen, wie das Wissen um die Größe des Schöpfers, das Studium der Tora usw. Diese gehören zu der Kategorie „Kopf“.
b) Es gibt Mizwot, die sich auf die Gefühle des Herzens beziehen, wie die Liebe zu G-tt, die Furcht vor G-tt, die Liebe zu Israel usw. Diese gehören zu der Kategorie „Körper“.
c) Es gibt Mizwot, die Handlungen beinhalten. Diese sind im Wesentlichen mit Kabbalat Ol (Annahme des Himmlischen Jochs), der Kategorie des „Fußes“, verbunden.7
Verstand und Gefühle sind begrenzt. Auch Kabbalat Ol, das sich auf den Verstand oder das Gefühl stützt (d. h. auf das Verstehen oder Fühlen der Notwendigkeit, das „Joch des Himmelreiches“ anzunehmen), ist begrenzt. Das eigentliche Prinzip von Kabbalat Ol ist jedoch unbegrenzt.
Dies ist die Bedeutung von „Wenn du deinen Fuß ausgestreut hast.“ „Ausstreuen“ hat die Konnotation, ohne Grenzen zu sein. Wann und wo kann es ein uneingeschränktes Ausstreuen geben? In „deinem Fuß“, dem Aspekt von Kabbalat Ol; im „Fuß“ im reinen Sinne, wenn er auf sich allein gestellt ist, unabhängig von Geist und Herz. Wenn der „Fuß“ mit dem Verstand oder dem Herzen verbunden ist, kann dies zum Gehen und bestenfalls zum Laufen führen. Wenn der „Fuß“ jedoch auf sich allein gestellt ist, gibt es „Ausstreuung“ – ohne jede Einschränkung.
XXIII. Wie kann ein vernunftbegabtes Wesen seinen Verstand und seine Gefühle aufgeben und eine Haltung des „Wenn du deinen Fuß ausgestreut hast“ einnehmen?
Die Antwort findet sich in den nächsten Worten unseres Textes: „um des Armen willen.“ Der Mensch muss seinen eigenen Status und Zustand betrachten. Dann wird er entdecken, dass er selbst „arm“ ist, d. h. „arm im Geiste.“8 Sein Geist ist also nichts, wonach man sich richten kann. Das Gleiche gilt auch für die Gefühle seines Herzens. Diese Erkenntnis erlaubt es dem Menschen, in sich eine Haltung des „Wenn du deinen Fuß ausgestreut hast“ für jede Mizwa im Allgemeinen und für die „nicht näher definierte Mizwa – d. h. die Mizwa der Zedaka“ im Besonderen zu bewirken. Er wird mit seinen Füßen laufen, ohne zu berechnen, um einem anderen Juden sowohl mit materieller als auch mit geistiger Zedaka zu helfen.9
XXIV. Die daraus resultierende Belohnung lautet: „Gesegnet bist du in deinem Kommen und gesegnet bist du in deinem Gehen.“ „Dein Kommen“ bezieht sich auf die Itaruta Dile-ela (Anregung von oben), die der Awoda des Menschen vorausgeht und ihm die Fähigkeit verleiht, sie fortzusetzen. „Dein Gehen“ bezieht sich auf die Itaruta Dile-ela, die als Antwort auf eine Itaruta Diletata (Initiative von unten, vom Menschen) folgt.10
Beide sind mit dem Wort „gesegnet“ verbunden. Das bedeutet, dass die Itaruta Dile-ela viel größer sein wird als normalerweise, wenn sie im Verhältnis zur Awoda des Menschen steht. Mit anderen Worten, eine Anstrengung im Modus des „Wenn du deinen Fuß ausgestreut hast“, d. h. ohne Einschränkung, bringt eine Belohnung hervor, die die tatsächliche Anstrengung bei weitem übersteigt. Denn der Heilige, gesegnet sei Er, wohnt nur an einem Ort der Vollkommenheit11 (d. h. der Vollkommenheit der Awoda).
XXV. Dennoch verliert unsere Aussage der Weisen nicht ihre wörtliche Bedeutung. So gilt sie auch für all jene, die das „Wenn du deinen Fuß ausgestreut hast“ erfüllten, indem sie an der Tahalucha12 teilnahmen, die sich über mehrere Stunden hinzog. In dieser Zeit hätten sie sich auch friedlich mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigen können. Dennoch gingen sie nach dem Motto „Wenn du deinen Fuß ausgestreut hast“, um auf die geistig Armen einzuwirken. Mögen sie so in ihnen das „Gesegnet bist du in deinem Kommen und gesegnet bist du in deinem Gehen“ erfüllt finden: dein Kommen und Gehen an jedem Tag, in jeder Woche, in jedem Monat und in jedem Jahr. Möge auch das „Gesegnet bist du in deinem Kommen und gesegnet bist du in deinem Gehen“ in Bezug auf ihre Awoda sein: ein Segen „in deinem Kommen“, d. h., eine Himmlische Verleihung der Fähigkeit, in ihrer Arbeit erfolgreich zu sein, um ihre Mission zu erfüllen, wo immer sie auch hingehen; und ein Segen „in deinem Gehen“, d. h., dass sie bei der Beendigung der Awoda ihrer Mission gute Früchte ihrer Bemühungen sehen werden, das Konzept von „Möget ihr eure ‚Welt‘ zu Lebzeiten sehen.“13
Mögen sie in all ihren persönlichen Angelegenheiten erfolgreich sein: im Studium der Tora, in der Erfüllung der Mizwot mit Hidur14 und in der Awoda des Gebets – die das „Rückgrat“ von allem ist,15 und mögen sie mit all ihren materiellen Bedürfnissen gesegnet sein.
(Adaptiert aus einer Sicha gehalten an Schawuot 5718)
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