"Der uns erwählt hat von allen Nationen und uns Seine Tora gegeben hat ..." (Segensspruch). Diese Bracha sagen wir jeden Morgen und jedes Mal, wenn man in der Synagoge zur Tora aufgerufen wird. Damit danken wir G-tt dafür, dass er uns, die Kinder Abrahams, Isaaks und Jakobs, dazu erkoren hat, Seine größte Gabe zu empfangen – ein Ereignis, dessen wir zu Schawuot gedenken.

Unsere Weisen erzählen uns, dass G-tt die Tora, bevor Er sie uns gab, den anderen Nationen der Welt angeboten hatte. Sie trauten Ihm jedoch nicht sondern fragten: "Was steht denn darin?" Als sie erfuhren, dass es darin Vorschriften gibt, die ihre Leidenschaften und alle niedrigen Triebe einschränken und bezwingen würden, lehnten sie sie ab. Danach bot G-tt die Tora unserem Volke an, und wir antworteten: "Na’asseh wenischma" – "Wir wollen tun und gehorchen" (Exodus 24, 7). Ohne jede Frage nahmen wir die Tora entgegen, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern. Wir waren uns bewusst, dass dies G-ttes höchste Gabe an uns war; und die Tora rechnet es uns als Verdienst an, dass wir sie in dem richtigen Geiste annahmen.

Doch war es nicht nur damals, nicht nur ein einziges Mal, dass G-tt den Völkern der Welt die Tora angeboten hat. Nein, jeden Tag erneut wünscht die Tora, von ihnen akzeptiert zu werden. Unsere Weisen sagen (Sprüche der Väter 6, 2): "Tagtäglich geht eine Himmlische Stimme vom Berge Sinai aus, und sie kündet und spricht: 'Wehe den Geschöpfen, dass die Tora verachtet wird!'." Und immer noch hat die Welt die Tora nicht anerkannt; sonst wäre sie ja nicht so voll des Blutvergießens, der Ungerechtigkeit und der Unterdrückung.

Wenn wir also auf diese Weise anerkennen, dass wir für die Entegegennahme der Tora erwählt worden sind, so müssen wir eins besonders betonen: Dies geschah nicht, damit uns Reichtum und Macht und ein behagliches Leben zuteil würden. Keinen dieser Vorteile haben wir während unseres langen Exils unter den anderen Völkern genossen. Als wir die Tora erhielten, wussten wir, dass uns dadurch keine privilegierte Stellung geschaffen würde. Denn nachdem die anderen Nationen die Tora nicht haben wollten, war es klar, dass sie auch diejenigen nicht lieben würden, die ihr gemäß lebten. Wir erkannten die Pflichten und die Verantwortung, die uns die Tora auferlegt hat. Dennoch nahmen wir sie an, und die vielen Jahrhunderte hindurch sind wir ihr treu geblieben, haben für sie gelitten und sind für sie gestorben.

Trotz alledem aber drücken wir G-tt jeden Tag unseren Dank für sie aus. Gibt uns doch die Tora etwas, das reicher als Gold und Silber und wertvoller als alle Schätze der Welt ist. Sie stattet uns aus mit G-ttlicher Weisheit, wahrhaftem Glück, wahrer Stärke und wahrem Frieden. Die Zeit wird kommen, da alle Völker einsehen werden, was wir besitzen und was ihnen fehlt. Auf jenen Tag beziehen sich unsere Weisen mit folgendem Gleichnis:

An einem gewissen zukünftigen Tage wird der Ewige eine Torarolle in Seine Arme nehmen und ausrufen: "Wer immer diese Tora studiert und ausgeübt hat, er soll jetzt kommen und seinen Lohn empfangen!" Die anderen Völker werden sich alle versammeln und sagen: "Herr der Welt! Hättest Du uns nur überredet, die Tora anzunehmen, so wie Du die Kinder Israel überredet hast, dann hätten wir sie auch gehalten." Und G-tt wird ihnen entgegnen: "Euch habe Ich sieben Gebote auferlegt, und habt ihr sie gehalten? Wie viel weniger hättet ihr die 613 Mizwot der Tora gehalten!"

Diese sieben ("noachidischen") Vorschriften für die Welt sind: Die Verbote – 1. des Götzendienstes, 2. der Unzucht, 3. des Blutvergießens, 4. der G-tteslästerung, 5. des Diebstahls, 6. der Ungerechtigkeit allgemein und 7. des Genusses von Fleisch, das von einem noch lebenden Tiere abgeschnitten worden ist.

Auch heute stellt die Tora die gleiche dauernde Forderung an die Völker der Welt: "Wehe den Geschöpfen, dass die Tora verachtet wird!". Die Menschheit zahlt für diese Verachtung teuer, in der Form von Kriegen, Blutvergießen und Not. Doch der Tag wird ganz sicher kommen, da die ganze Erde angefüllt sein wird von der Erkenntnis G-ttes, da jedermann seinen Weg erleuchtet sehen wird durch die lohende Fackel, die wir allein viele Jahrhunderte hindurch getragen haben, das Licht der Tora.