XIV. Ahawat Jisrael ist eine Voraussetzung für Kabbalat haTora (Empfang der Tora). Dies kann im Zusammenhang mit Matan Tora verstanden werden, wofür die Anzahl von 600.000 Juden erforderlich ist, ohne Rücksicht auf irgendwelche Unterschiede zwischen ihnen.1
Jeder Unterschied zwischen einem Juden und einem anderen bezieht sich auf die individuellen Potenziale. In Bezug auf die Seele an sich sind jedoch alle gleich. Vom Wesen her sind die Seelen „alle gleich, und alle haben einen einzigen Vater.“2 Als der Allmächtige bei Matan Tora Seine Essenz – Anochi (Ich Selbst)3 – mit der Essenz der Juden verband, waren daher alle 600.000 Juden gleich.
So können wir verstehen, warum Ahawat Jisrael eine Vorbereitung, eine Voraussetzung für Matan Tora ist. Denn Ahawat Jisrael ruft die Essenz der Seele hervor, wie weiter unten erklärt wird.
XV. Mein Schwiegervater, der Rebbe, zitierte eine Lehre des Baal Schem Tow4 über Ahawat Jisrael, die sich auch auf einfache Leute bezieht:
Die Gemara5 sagt: „Was steht in den Tefillin des Herrn des Universums geschrieben? ‚Wer ist wie Dein Volk Israel, ein einzigartiges Volk auf Erden?‘“6 Das jüdische Volk stellt die Tefillin des Allmächtigen dar. Bei den Tefillin gibt es die Tefillin für die Hand und die Tefillin für den Kopf. Jede von ihnen ist eine eigene Mizwa und erfordert eine Bracha (Segensspruch)7 [wobei die Meinungen darüber auseinandergehen, ob man einen oder zwei Segenssprüche rezitieren muss8 ]. Das Anlegen der Hand-Tefillin geht dem Anlegen der Kopf-Tefillin voraus.9 Dasselbe gilt für die Tefillin des Herrn des Universums: Die Hand-Tefillin – die für die „Meister der guten Taten“ stehen (einfache Menschen, die die Gebote einhalten) – gehen den Kopf-Tefillin voraus – die für die Intellektuellen stehen (Gelehrte, die sich mit der Tora auskennen).
Diese Lehre rief bei vielen ein Gefühl von Ahawat Jisrael gegenüber einfachen Leuten hervor, da sie davon ausging, dass die „Meister der guten Taten“ höher stehen als die Gelehrten. Viele Quellen erklären dies damit, dass einfache Menschen eine Manifestation der Einfachheit der Essenz haben.10
XVI. Der heilige R. Susja erzählte dem Alten Rebben,11 dass er von seinem Bruder, dem heiligen R. Elimelech, Folgendes gehört habe: Die Schüler des Maggid bedienten ihren Meister in vorher festgelegten Schichten. Einmal, als R. Elimelech an der Reihe war, rief der Maggid ihn herein und sagte: „Melech, hörst du, was sie in der Akademie in der Höhe sagen? Ahawat Jisrael bedeutet, einen Rascha Gamur (einen ganz und gar bösen Menschen) genauso zu lieben wie einen Zaddik Gamur (einen ganz und gar rechtschaffenen Menschen)!“12
Diese Maxime des Maggid geht über die des Baal Schem Tow hinaus. Der Baal Schem Tow bezog sich nur auf einfache Leute. Der Maggid schloss auch die ganz und gar Bösen ein und sagte darüber hinaus, dass die Liebe zu einem Rascha Gamur die gleiche sein soll wie zu einem Zaddik Gamur.
XVII. Der Alte Rebbe erklärt, dass Ahawat Jisrael sich „sowohl auf die Großen als auch auf die Kleinen“ bezieht, eine Liebe wie unter „echten Brüdern“ – also eine wirklich innige Liebe.13 Das ist die Bedeutung von „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ – im wörtlichen Sinne „wie dich selbst.“ Die Liebe zu sich selbst – „wie dich selbst“ – ist eine intrinsische Liebe, unabhängig von allen äußeren Faktoren oder Berechnungen. Deshalb „deckt die Liebe alle Übertretungen zu“:14 Selbst wenn man erkennt und zugibt, dass es Übertretungen gibt (man befindet sich in einem Zustand, in dem nicht einmal die Selbstliebe einen täuschen kann zu denken, dass bestimmte Handlungen keine Übertretungen sind), wird die Selbstliebe diese dennoch irgendwie überdecken und entschuldigen. Denn diese Liebe dringt so tief in die Seele ein, dass die Übertretungen keine Auswirkungen auf sie haben werden. Dies ist das Ausmaß der Pflicht, den Mitmenschen zu lieben.15
[Zwar kann diese Art von Liebe nur durch rationale Kontemplation hervorgerufen werden (wie weiter unten erklärt wird); dennoch kann man durch die Kontemplation zu einer intrinsischen Liebe gelangen, die über die Vernunft hinausgeht.]
Wie kann man die Liebe zu einem anderen so intrinsisch sein wie die Liebe zu sich selbst? Schließlich ist der andere nicht man selbst!
Es gibt zwei Möglichkeiten, dies zu erklären:
a) Die Liebe zu Israel, die Liebe zur Tora und die Liebe zu G-tt sind allesamt eins.16 Die Liebe eines Juden zu G-tt ist intrinsisch, denn „Ihr seid Kinder des Ewigen, eures G-ttes“,17 und ein Kind und sein Vater haben dieselbe Essenz.18 Daraus folgt, dass auch die Liebe zu Israel, die sich aus der Liebe zu G-tt ableitet – „das zu lieben, was der Geliebte liebt“ –, eine intrinsische Liebe ist.19
b) Auf einer tieferen Ebene: Alle Juden sind eine singuläre Entität.20 Es gibt eine Essenz, die sich in jedem der verschiedenen Teile manifestiert.21 Daher ist es nicht wirklich Liebe zu einem anderen; es ist Liebe zu sich selbst.22
XVIII. Es scheint, dass die Aussage des Alten Rebben über die des Maggid hinausgeht.
Die Maxime, dass man einen Rascha Gamur genauso lieben soll wie einen Zaddik Gamur, basiert auf Vernunft und einem kalkulierten Urteil. Das sieht man daran, dass eine Unterscheidung bestehen bleibt, wenn man sagt, dass man ihn „genauso wie einen Zaddik Gamur“ lieben soll.
Eine Liebe „wie dich selbst“ unterliegt jedoch keinem Kalkül, denn es ist eine intrinsische Liebe zu sich selbst, zu seinem eigenen Wesen. So ist es auch mit der Liebe zu echten Brüdern.
XIX. Dies erklärt den Zusammenhang zwischen Ahawat Jisrael und Matan Tora: Ahawat Jisrael – „‚Israel lagerte dort‘ wie ein Mann“23, ohne Unterscheidungen – ruft die Essenz der Seele hervor (und ganz Israel besteht aus einer Essenz, wie oben gesagt). Dies ermöglicht es, sozusagen das „Ich Selbst“ zu ergreifen – die G-ttliche Essenz, die durch die Tora der Essenz Israels gegeben wird.
(Adaptiert aus einer Sicha gehalten an Schawuot 5713)
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