I. Das erste Gebot im Buch Bamidbar lautet: „Zähle die ganze Gemeinde Israels.“1 Die Gemara bezeichnet deshalb das ganze Buch mit dem Begriff Pekudim (das Buch der „Gezählten“).2
Der Akt des Zählens hat nichts mit der Beschaffenheit der gezählten Objekte zu tun und sagt nichts über diese aus. Denn die Summe nimmt jeden Bestandteil gleich auf, ohne Rücksicht auf quantitative oder qualitative Unterschiede. Der Größte oder Wichtigste zählt nicht mehr als einer, so wie der Kleinste oder Unwichtigste nicht weniger als einer zählt. Eine Aufzählung sagt also nichts über die besondere Bedeutsamkeit dessen aus, was gezählt wird.
Die oben erwähnte Aufzählung beschränkte sich zwar auf Personen, die „zwanzig Jahre und älter“ waren.3 Diese Altersqualifikation hängt jedoch nicht von irgendwelchen Anstrengungen oder persönlichen Leistungen der gezählten Person ab. Sie hängt nicht mit der Eigenschaft der Person zusammen, sondern ergibt sich im Laufe der Zeit von selbst. Ein Zustand der Frühreife ist nicht dasselbe wie der Zustand der unzureichenden Vorbereitung.4
All dies wirft eine Frage auf. Eine Aufzählung ist, wie gesagt, etwas Äußerliches, das nichts mit der Essenz oder der Bedeutsamkeit zu tun hat. Warum sollte dann so etwas das allererste und grundlegende Gebot dieses Buches der Tora sein, so dass das ganze Buch als das Buch der Pekudim (das Buch der Gezählten) bezeichnet wird?
II. Es gibt einen halachischen Grundsatz, der besagt: „Etwas, das man üblicherweise zählt, wird nicht annuliert oder neutralisiert.“5 Allein die Tatsache, dass es gezählt wird, zeigt, dass seine Art einen Eigenwert hat, und aufgrund dessen wird jede seiner Einheiten separat gezählt. Die Zählung oder Aufzählung sagt nichts über die Essenz oder die Bedeutsamkeit eines Teils im Verhältnis zu einem anderen Teil aus; sie zeigt jedoch die Bedeutsamkeit der Art als Ganzes im Verhältnis zu anderen Arten an.6
Es scheint jedoch, dass diese Erklärung noch nicht zufriedenstellend ist. Eine Aufzählung zeigt zwar die Bedeutsamkeit der Art als Ganzes, aber sie ist nur ein Hinweis oder eine Demonstration dieser Bedeutsamkeit, und nicht ihre Ursache. Mit anderen Worten: Die Aufzählung verursacht oder begründet die Bedeutsamkeit nicht, sie zeigt sie nur auf.
Dies würde den Unterschied zwischen den beiden Normen „etwas, das stets gezählt wird“ (d. h. die Art von Objekt, das immer in einer bestimmten Anzahl verkauft wird) und „etwas, das man üblicherweise zählt“ (d. h. eine Art von Objekt, das normalerweise in einer bestimmten Anzahl verkauft wird, aber nicht immer) erklären.7 Wenn sich die Bedeutsamkeit gezählter Objekte aus der Tatsache ergibt, dass sie gezählt werden, sollte es keinen Unterschied zwischen den beiden Normen „etwas, das stets gezählt wird“ und „etwas, das man üblicherweise zählt“ geben. Schließlich kommt es in dieser Sichtweise nur darauf an, ob es gezählt wurde oder nicht: Wenn es tatsächlich gezählt wird, wird es nicht annulliert oder neutralisiert.
In der Tat unterscheiden wir aber zwischen diesen beiden Standards. Daraus folgt ganz offensichtlich, dass der Unterschied davon abhängt, ob der Gegenstand selbst einen Wert und eine Bedeutsamkeit hat oder nicht, und dass das Zählen lediglich ein Hinweis auf diesen Wert ist. Nach Ansicht von R. Jochanan8 kann daher ein Gegenstand, der manchmal gezählt wird und manchmal nicht, für null und nichtig erklärt und neutralisiert werden, weil er eindeutig nicht so wertvoll ist (und das Gesetz folgt dieser Ansicht von R. Jochanan9 ).
Eine Aufzählung ist also etwas ganz und gar Oberflächliches. Warum ist dann das Gebot der Zählung des jüdischen Volkes so grundlegend, dass dieses ganze Buch als Buch „der Gezählten“ bezeichnet wird?
III. Nichts ist zufällig. Alle Dinge, und insbesondere die Angelegenheiten von Tora und Mizwot, sind durch Haschgacha Pratit (G-ttliche Vorsehung, die sich auf alle Einzelheiten im Universum erstreckt, von den größten und erhabensten Details bis hin zu den kleinsten und scheinbar unbedeutendsten) geregelt. Daher haben sogar Zeichen oder Symbole eine innere Beziehung zu den Dingen, die sie darstellen.10
Dieser Grundsatz gilt auch für Aufzählungen. Die Tatsache, dass eine Aufzählung ein Hinweis auf die Bedeutsamkeit ist, impliziert, dass auch die Zählung selbst von Wichtigkeit ist.
Zwar wurde oben festgestellt, dass eine Aufzählung als solche nicht bedeutsam ist; dies bezieht sich jedoch nur auf die Zählung an sich, wenn sie nicht auf etwas von Bedeutsamkeit bezogen ist. Bezieht sich die Zählung jedoch auf bedeutsame Gegenstände, so spiegelt sich deren Bedeutsamkeit auch in der Zählung wider. Dennoch ist diese „reflektierte Bedeutsamkeit“, die mit der Aufzählung verbunden ist, nicht intrinsisch, sondern oberflächlich.
Dies erklärt, warum das gesamte Buch Bamidbar als „Buch der Gezählten“ bezeichnet wird. Die Aufzählung an sich ist in der Tat nicht bedeutsam. Nichtsdestotrotz weist die Aufzählung auf die Bedeutsamkeit des gezählten Objekts hin, und deshalb wird das ganze Buch im Hinblick auf die Aufzählung als „Buch der Gezählten“ bezeichnet.
IV. Dies wirft eine weitere Frage auf. Eine Aufzählung ist, wie gesagt, etwas Oberflächliches, ganz und gar getrennt von der Essenz des gezählten Objektes. Wie kann sie dann das Mittel sein, durch das sich die Essenz und die Bedeutsamkeit manifestieren?
Diese Frage wäre jedoch nur dann problematisch, wenn Quantität und Qualität zwei unabhängige Einheiten wären. In diesem Fall wäre es in der Tat unmöglich, dass sich die Bedeutsamkeit (Qualität) durch das Zählen (Quantität) manifestiert. In unserem Kontext geht es jedoch um die Juden und die mit ihnen verbundenen Dinge. Die Juden sind „ein einzigartiges Volk auf Erden.“11 Der Alte Rebbe12 interpretierte diesen Satz so, dass sie sogar „auf Erden“, in allen irdischen (weltlichen) Dingen – also in materiellen und physischen Dingen – ein „Einssein“ bewirken, indem sie Qualität und Quantität verbinden. Bei ihnen kann sich also die Qualität sogar in der Quantität ausdrücken.
V. Angesichts dieser Beziehung zwischen Quantität und Qualität kann eine quantitative Steigerung auch den Status der Qualität verbessern.13
Ein Beispiel dafür ist das Konzept des Minjan. Eine Versammlung von zehn Juden (das Quorum für einen Minjan) bewirkt, unabhängig vom qualitativen Status jedes Einzelnen dieser zehn, eine Einwohnung der Schechina: „Die Schechina ruht auf jeder Versammlung von zehn Männern.“14 Der Minjan ermöglicht somit die Rezitation bestimmter heiliger Texte.15 Quantität wird hier also als Ursache für eine Qualitätssteigerung gesehen.
Ein weiteres Beispiel ist das Tischgebet nach den Mahlzeiten. Wenn drei Personen zusammen essen, müssen sie gemeinsam das Tischgebet (mit Simun) sprechen. Wenn zehn Personen zusammen essen, wird der G-ttliche Name in die Präambel des Simun eingefügt. In der Mischna wird sogar die Meinung vertreten, dass noch eine weitere Einfügung erfolgen soll, wenn es hundert sind und so weiter.16 Mit anderen Worten, eine Veränderung der Quantität bewirkt eine Veränderung der Qualität, weil beide miteinander verbunden sind und die Quantität von der Qualität durchdrungen ist.
VI. Das gleiche Prinzip gilt auch für die Einhaltung von Mizwot: „Während man mit der Einhaltung einer Mizwa beschäftigt ist, ist man von der Erfüllung einer anderen Mizwa befreit.“17 Mit anderen Worten, während man mit einer Mizwa beschäftigt ist, ist man von der Einhaltung einer anderen Mizwa befreit, unabhängig davon, wie groß sie sein mag, sogar im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen „den einfachen und den schwersten Mizwot.“18
Außerdem ist man, während man mit der Einhaltung einer Mizwa beschäftigt ist, sogar vom Studium der Tora befreit! Diese Befreiung gilt ungeachtet der Tatsache, dass die Beziehung der Mizwot zur Tora wie die des Körpers zur Seele ist,19 und wie die der Glieder zum „Blut, das die Lebenskraft“20 in den Gliedern ist.21 Diese Beziehung besteht analog zu der zwischen Quantität und Qualität. Nichtsdestotrotz wird die Beschäftigung mit einer noch so „kleinen“ Mizwa vom Studium der Tora befreien. Der Grund dafür ist wiederum, dass die Quantität von der Qualität durchdrungen ist.
VII. Dieses Prinzip findet sich auch bei Matan Tora (der Übergabe der Tora). Matan Tora erforderte die Anwesenheit von 600.000 Juden. Wenn auch nur einer gefehlt hätte, selbst wenn es der unbedeutendste aus dem Stamm Dan gewesen wäre,22 hätte der Allmächtige dem jüdischen Volk die Tora nicht gegeben, G-tt bewahre,23 nicht einmal dem Größten unter ihnen. Das Fehlen auch nur eines Einzigen hätte die erforderliche Quantität von 600.000 vermindert. Ebenso erfordert der Segen von Chacham Harasim die Anwesenheit einer Anzahl von nicht weniger als 600.000.24
VIII. Die Zählungen im Buch Bamidbar hängen mit dem Thema der Stammesflaggen zusammen.25 Der Midrasch berichtet: Zur Zeit von Matan Tora hatte das jüdische Volk eine Vision von der Merkawa (dem Wagen für die G-ttlichkeit) und von Legionen von Engeln, „die alle unter verschiedenen Flaggen angeordnet waren. So sehnten sie sich nach Flaggen und sagten: ‚Ach, könnten wir doch auch unter Flaggen angeordnet sein wie sie.‘“ Der Heilige, gesegnet sei Er, sagte daraufhin zu Mosche: „Geh und ordne sie unter Stammesflaggen an, wie sie es wünschten.“26
So wie Matan Tora die Anzahl von 600.000 erforderte, so auch die Anordnung unter Flaggen – die ihren Ursprung in Matan Tora hatte. Unsere Weisen sagten also, dass die Zahl der Menschen, die unter der Fahne für das Lager Jehudas aufgestellt wurden, der Zahl der Engel im Lager Michaels entspricht und so weiter.27 Mit anderen Worten, diese bestimmte Menge bewirkte eine bestimmte Qualität.
IX. Die obigen Ausführungen lehren uns Folgendes:
Wir leben in einer Zeit, in der Quantität als wichtiger angesehen wird als Qualität. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass wir immer mehr Juden unter die Flaggen Israels bringen, unabhängig von ihrem Zustand und Status. Wenn die Quantität zunimmt, wird dies schließlich auch die Qualität verbessern.
Zunächst ist es nicht wichtig, wie tiefgreifend sie in qualitativer Hinsicht berührt sein werden. Das unmittelbare Anliegen ist es, Juden in das Lager Israels zu bringen. Der Alte Rebbe erklärt, dass der Grundsatz „Die Schechina ruht auf jeder Versammlung von zehn Personen“28 auch dann gilt, wenn diese sich nicht mit Tora beschäftigen: Allein die Tatsache, dass es eine Versammlung von zehn Personen gibt, reicht aus, um eine Einwohnung der Schechina herbeizuführen.29 Ähnlich verhält es sich in unserem Kontext: Die größere Quantität im Lager Israels wird eine qualitative Wirkung haben. Dies wiederum wird zur Verwirklichung des Endziels führen: „Der Heilige, gesegnet sei Er, wollte eine Dira Batachtonim (eine Wohnstätte in den unteren Welten) haben.“30
X. Dennoch muss man sich des Grundsatzes bewusst sein: „Verbirg dich nicht vor deinem eigenen Fleisch.“31 Sich auf Matan Tora vorzubereiten bedeutet nicht nur, mit anderen zu arbeiten, sondern auch mit sich selbst. Der Midrasch32 erzählt uns, dass zur Zeit von Matan Tora niemand taub, blind oder anderweitig verstümmelt und behindert war, G-tt bewahre. Alle waren geheilt. Für die Übergabe der Tora muss man mit allen Gliedern kommen, ohne Makel oder Behinderung.
Was die anderen angeht, so darf man sich nicht durch ihre mangelhafte Qualität abschrecken lassen. Man muss sich mit jedem einzelnen Juden anfreunden und ihn nahebringen. So war es auch bei Matan Tora: „Israel lagerte“,33 (grammatikalisch im Singular), alle wie ein Einziger.34 Was jedoch die eigene Person betrifft, so muss man sich sorgfältig mit dem eigenen Zustand befassen. Jede Art von Makel muss korrigiert werden, sei es beim Sehen, Hören oder was auch immer.
(Adaptiert aus einer Sicha gehalten am Schabbat Paraschat Bamidbar 5714)
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