XI. Diese Sidra schließt mit der Frage Mosches an den Allmächtigen: „Warum hast Du diesem Volk Böses widerfahren lassen?“1 Und der Allmächtige antwortete ihm (wie am Anfang von Paraschat Wa-era): „Ich bin der Ewige. Und Ich bin [Awraham, Jizchak und Jaakow] unter dem Namen G-tt, der Allmächtige, erschienen, aber ich war ihnen nicht unter Meinem Namen Hawaja bekannt ... und ihr sollt wissen, dass Ich Hawaja bin ...“2
In Tora Or3 wird erklärt, dass es zur Zeit von Matan Tora eine Manifestation des Tetragrammatons (Hawaja) gab, die den Patriarchen nicht offenbart worden war. Damit diese Manifestation möglich wurde – „Und ihr sollt wissen, dass Ich Hawaja bin“ – gab es jedoch die Voraussetzung der ägyptischen Galut: „Du hast diesem Volk Böses widerfahren lassen.“
Der Diskurs kommt zu dem Schluss, dass dies der Grund für die Länge der [jetzigen] letzten Galut ist, die als Vorbereitung für die zukünftigen Offenbarungen dient.
XII. Jeder Teil der Tora ist absolut wahr und zeitlos. Daraus folgt, dass ein in der Tora aufgeworfenes Problem eine gewisse Gültigkeit behält, selbst wenn eine Lösung angeboten wurde.
Der Rebbe, mein Schwiegervater, erwähnte einmal während eines Farbrengens an Schawuot ein Problem, das in den Schriften des Chassidut aufgeworfen wurde, nämlich warum die Feier von Simchat Tora nicht mit Schawuot, der Zeit von Matan Tora, zusammenfällt. Er sagte, dass es zwar eine Antwort gibt, aber die Tatsache, dass das Problem in der Tora aufgeworfen wurde, bedeutet, dass man auch jetzt noch der Meinung sein kann, dass Simchat Tora mit Schawuot zusammenfallen sollte.
So auch in unserem Fall: Die Frage „Warum hast Du diesem Volk Böses widerfahren lassen?“ erscheint in der Tora; daher kann man diese Frage auch nach der Antwort „Ich bin erschienen ...“ noch stellen.
XIII. Einer der Gründe dafür ist der folgende. Die Unterdrückung der Galut ist zwar eine Voraussetzung für die zukünftigen Manifestationen; dennoch hätte sie durch eine geistige Unterdrückung ersetzt werden können.
So finden wir in Tora Or4 eine Erläuterung des geistigen Gegenstücks zu allen Aspekten der physischen Unterdrückung, die in dem Vers „Und sie machten ihr Leben bitter mit hartem Dienst, mit Mörtel und mit Ziegeln und mit allerlei Dienst auf dem Feld“5 genannt werden: „Sie machten ihr Leben bitter“ bezieht sich auf die Tora, die unser Leben ist; „mit hartem Dienst“ bezieht sich auf Probleme; „Chomer (Mörtel)“ bezieht sich auf Kal waChomer; „mit allerlei Dienst auf dem Feld“ bezieht sich auf die Baraita; „Lewenim (Ziegel)“ bezieht sich auf Libun (Klarstellung) von Halacha.6
XIV. So wie die physische Galut selbst durch ihre spirituellen Gegenstücke ersetzt werden kann, so können auch die Anstrengungen und die Beschäftigung mit dem Lebensunterhalt (was die eigentliche Essenz der Galut ausmacht)7 durch Anstrengungen und Beschäftigung mit dem Studium der Tora ersetzt werden.
Der schwerwiegendste Aspekt der Probleme mit dem Lebensunterhalt ist die Tatsache, dass „viele Gedanken im Herzen des Menschen sind“8, bis zu dem Punkt, dass man nicht mehr weiß, was man tun soll. Doch dies kann durch Anstrengung und Beschäftigung mit dem Studium der Tora ersetzt werden: sich so lange mit der Tora zu beschäftigen, bis man logische Gründe für beide Seiten eines Arguments findet und nicht mehr weiß, wie man sich entscheiden soll. Dies ist eine äußerst anstrengende und beunruhigende Erfahrung.
Der Gaon von Rogatschow sagte einmal, der schwierigste Tag sei für ihn der Schabbat. Während der Woche, wenn sein Geist mit logischen Argumenten in die eine oder andere Richtung überquillt, greift er einfach zum Schreibstift, denn wenn er etwas schriftlich festhält, wird der Gedankenstrom eingegrenzt, und so fällt es ihm leichter, eine Entscheidung zu treffen. Am Schabbat jedoch steht ihm dieses Hilfsmittel nicht zur Verfügung, und er ist gezwungen, sich noch mehr anzustrengen, um ein Urteil zu fällen.
So wird auch vom Mittleren Rebben gesagt,9 dass, wenn er Reden von Chassidut hielt, der Raum immer sehr still war. Trotzdem kam es vor, dass er sich gelegentlich unterbrach und „Sch, sch“ rief. Der Rebbe Raschab erklärte, dass er dies tat, um den Strom der Gedanken in seinem Kopf zu beruhigen.
Man könnte sich fragen, warum es notwendig sein sollte, den geistigen Erguss zu stoppen. Aber, wie erklärt, ist es bei einem überschwänglichen Erguss des Intellekts sehr schwierig, zu einer klaren Entscheidung zu gelangen; denn auf jede Antwort folgt sofort eine andere Einsicht, die in eine andere Richtung geht, und so finden wir in den Reden des Mittleren Rebben häufig den Ausdruck „im Gegensatz zu dem Vorgenannten.“
XV. Ein Hauptmerkmal der ägyptischen Galut war der Aspekt von Awodat Perach (ein strenger, zermalmender Dienst). Die Gemara10 erklärt, dass die Ägypter die Arbeit der Männer den Frauen und die Arbeit der Frauen den Männern übertrugen – eine unnatürliche Anordnung.
Auch diese Awodat Perach muss auf geistige Weise ersetzt werden. Es muss eine Auseinandersetzung mit Tora und Mizwot jenseits der normalen Ordnung stattfinden.
Bei der körperlichen Awodat Perach ist die Arbeit der Frauen in der Tat leichter als die der Männer, denn „es ist die Art des Mannes, zu unterwerfen, aber es liegt nicht in der Natur der Frau, zu unterwerfen.“11 Eine Umkehrung der Rollen ist jedoch unnatürlich und stellt Awodat Perach dar. Im spirituellen Bereich ist es dasselbe: Der Dienst selbst mag minimal sein, aber weil er eine Änderung der Gewohnheiten erfordert, ersetzt er die physische Awodat Perach.
So wird im Tanja12 erklärt, warum die Gemara13 sagt, dass derjenige, der seine Lektion nicht mehr als 100 Mal wiederholt, „einer, der Ihm nicht dient“ genannt wird, während derjenige, der seine Lektion 101 Mal wiederholt, „einer, der G-tt dient“ genannt wird. Der einzige Unterschied zwischen ihnen ist dieses eine zusätzliche Mal; aber da es in jenen Tagen üblich war, jede Lektion 100 Mal zu wiederholen, ging der letztere in der Tat über seine natürliche Ordnung und Gewohnheit hinaus, und deshalb wird er „einer, der G-tt dient“ genannt.
(In der Tat dringt das Echad – das eine zusätzliche Mal – zum Jechida-Aspekt der Seele vor. Die 100 Male entsprechen den zehn Seelenkräften, die sich in zehn Ebenen unterteilen; die Zahl 101 ist der Aspekt von Jechida, der auf der Himmlischen Ebene dem Aspekt von Keter entspricht.)14
XVI. So wird sogar eine einfache und minimale Awoda die physische Awodat Perach ersetzen, wenn sie eine Änderung der Gewohnheit und des Brauchs mit sich bringt, und kraft dieser Änderung wird man als „einer, der G-tt dient“ bezeichnet.
Darüber hinaus, selbst wenn diese Änderung der Gewohnheit und des Brauchs nicht zutiefst bezwingend ist (d. h., wenn er es nicht verinnerlicht), wenn er also im Wesentlichen seine ursprüngliche Natur und Gewohnheit beibehält und sich lediglich dazu zwingt, anders zu handeln, selbst dann erreicht er die Stufe von „einer, der G-tt dient.“
Dies ist so, weil das Wesen und der Kern des Willens eines Juden ganz und gar gut ist, es sei denn, dass er von der bösen Neigung überwältigt wird; daher ist sogar die Anwendung von Zwang (ohne eine tatsächliche Veränderung) bereits ausreichend.15
XVII. Jetzt können wir verstehen, warum der Alte Rebbe im Tanja das Beispiel der Gemara zitiert: „Auf dem Markt verdingten sich die Eseltreiber für eine Strecke von zehn Parasang (ca. 56 Kilometer) für einen Sus, für eine Strecke von elf Parasang aber für zwei Sus – weil das ihre übliche Praxis überstieg.“
Warum muss der Tanja das Beispiel der Eseltreiber überhaupt anführen? Die Definition der Gemara über die Tugend desjenigen, der seine Lektion 101 Mal wiederholt, scheint völlig ausreichend zu sein. Offensichtlich trägt das Beispiel also zum richtigen Verständnis des Prinzips der Änderung von Gewohnheiten bei – das ist das Thema, das im Tanja behandelt wird.
Ein Maschal (Beispiel; Gleichnis) in der Tora muss dem Nimschal (dem, mit dem es verglichen wird) entsprechen. Denn da sich das Maschal aus dem Nimschal entwickelt, müssen sie einander entsprechen. Dies gilt auch in unserem Fall.
Der Körper wird als Chamor (Esel) bezeichnet,16 und einem Juden wird befohlen: „Du sollst ihm helfen“17 : Eine Awoda, die sich nur auf die Seele bezieht, reicht nicht aus; man muss auch den Körper verfeinern und veredeln. Hierfür gibt es zwei Ansätze:
(a) Ithapcha (Verwandlung) – den Körper von einem Chamor in einen Medaber (sprachbegabtes, d. h. rationales Wesen) zu verwandeln.
Es gibt eine bekannte Anekdote aus der Zeit, als der Alte Rebbe sich auf den Weg machte, um von Mesritsch nach Hause zurückzukehren. R. Awraham der Malach,18 der Sohn des Maggid von Mesritsch, begleitete den Alten Rebben. R. Awraham wies den Kutscher an, die Pferde zu schlagen, „bis sie aufhören, Pferde zu sein.“ Nach einer anderen Version sagte er, er solle die Pferde so lange schlagen, „bis sie erkennen, dass sie Pferde sind.“ Der Rebbe erzählte, dass ihn dies eine neue Form der Awoda lehrte, und er verschob seine Abreise, um noch einige Zeit in Mesritsch zu bleiben.19
(b) Itkafja (Unterwerfung) – sich selbst zu unterwerfen und seine Gewohnheiten zu ändern, auch wenn man im Wesentlichen so bleibt, wie man ist. Auch der Modus von Itkafja macht ihn zu „einem, der G-tt dient“, wie das Beispiel der Eseltreiber zeigt. Denn in diesem Fall wird der Esel selbst nicht gekauft, d. h., er wird nicht zum Besitz dessen, der den Dienst des Esels in Anspruch nimmt (was in der Tat dem Modus von Ithapcha entsprechen würde). Der Esel wird nur gemietet, d. h., er verbleibt Eigentum seines ursprünglichen Besitzers, doch selbst dort achtet er nicht auf seine Gewohnheit, nicht mehr als zehn Parasang zu reisen, und ist ihm zu Diensten außerhalb dieser Norm.
So auch im Bereich des Geistigen: Der Körper verbleibt in seinem grob-materiellen Zustand, aber dadurch, dass der Mensch sich die physischen Aspekte des Körpers sogar mit Zwang unterwirft, wird auch er als „einer, der G-tt dient“20 angesehen.
(Adaptiert aus einer Sicha gehalten am Schabbat Paraschat Wa-era 5711)
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