V. In Paraschat haChodesch1 lesen wir auch über die Mizwa, Mazza zu essen: „Sieben Tage lang sollt ihr Mazza (ungesäuertes Brot) essen.“2

Die Mizwa, Mazza [am Pessach] zu essen, ist auch heute noch eine biblische Verpflichtung.

Im Allgemeinen gibt es drei Grundprinzipien im Zusammenhang mit Pessach: Pessach (das Pessach-Opfer), Mazza und Maror (bittere Kräuter). Heutzutage haben wir das Korban Pessach nicht mehr, sondern „wir bringen das Opfer unserer Lippen anstatt Stieren dar.“3 Die Mizwa, bittere Kräuter zu essen, gilt immer noch, aber nur als rabbinische Vorschrift. Die Mizwa, Mazza zu essen, ist jedoch auch jetzt noch eine biblische Verpflichtung.4

VI. Mazza unterscheidet sich von Chamez (gesäuertes Brot) in zweierlei Hinsicht:

(a) Bei Chamez geht der Teig auf, während bei Mazza der Teig so bleibt, wie er ist. In spiritueller Hinsicht bedeutet dies, dass Chamez Eitelkeit – Selbstüberhöhung – bedeutet, während Mazza Bitul, Selbstverneinung, bedeutet.

Mazza ist also im Wesentlichen Lechem Oni, das Brot der Armut (der Bedrängnis).5 Denn Mazza bedeutet Bitul, das sich speziell in Lechem Oni manifestiert. Zwar kann man auch Mazza Aschira essen, aber die Mizwa-Verpflichtung, Mazza zu essen, kann nur mit Lechem Oni eingehalten werden.6

Die Mazza, die die Israeliten in Ägypten aßen, war ebenfalls Lechem Oni.

(b) Die Wörter Mazza und Chamez bestehen beide aus denselben Buchstaben, nur dass Mazza mit einem Hej und Chamez mit einem Chet geschrieben wird.7

Das Hej ist dem Chet ähnlich. Beide bestehen aus drei Linien und sind von unten offen. Der einzige Unterschied zwischen ihnen besteht darin, dass das Chet von drei Seiten vollständig geschlossen ist, während das Hej oben eine Öffnung hat.

Die offene Seite unten (die beide Buchstaben gemeinsam haben) symbolisiert, dass „die Sünde am Eingang hockt.“8 Die geschlossenen Linien auf allen anderen Seiten – im Buchstaben Chet – zeigen an, dass es kein Entkommen aus dieser Tatsache gibt, d. h. ,dass die Sünde am Eingang hockt. Die Öffnung oben, im Hej, zeigt an, dass es trotz dieser Tatsache eine Öffnung nach oben gibt – die Möglichkeit, seinen Zustand hinter sich zu lassen und Teschuwa zu tun.9

Es ist in der Tat nicht mehr als eine kleine Öffnung, aber unsere Weisen lehren uns, dass G-tt sagt: „Öffnet für Mich eine Pforte (der Teschuwa) wie ein Nadelöhr, und Ich werde für euch eine Pforte öffnen wie der Eingang zu einer großen Halle.“10 Denn ein einziger Gedanke an Teschuwa kann den Menschen augenblicklich von einem ganz und gar bösen Menschen in einen ganz und gar gerechten Menschen verwandeln.11

VII. Diese beiden Unterschiede zwischen Mazza und Chamez sind voneinander abhängig. Wenn es Bitul gibt, dann wird man, auch wenn man gesündigt hat, G-tt bewahre, an Teschuwa denken. Wo Eitelkeit und Selbstüberschätzung herrschen, denkt man nicht an Teschuwa.

Wo es Bitul gibt, unternimmt man keinen Versuch der Selbstrechtfertigung. Vielmehr wird man eine ehrliche Bestandsaufnahme seiner selbst machen und, wenn man Unregelmäßigkeiten in sich selbst findet, Teschuwa tun. Mit Selbstüberschätzung wird man jedoch immer Vernunftsgründe finden, um alle Taten zu rechtfertigen und zu entschuldigen.12

VIII. Der Eingebildete wird nicht nur für jedes Fehlverhalten Ausreden finden, weil er sich immer im Recht sehen will, sondern wenn er mit einer Verpflichtung konfrontiert wird, die ein Nachgeben des Ichs bedeutet – „sich unterzuordnen“ –, wird seine Selbstüberschätzung ihn veranlassen, alle möglichen Gründe und Argumente zu finden, um sich davon zu befreien.

Nehmen wir zum Beispiel die Zedaka (Wohltätigkeit). Zedaka ist das allumfassende Prinzip der Mizwot;13 wenn wir also diesen Punkt im Zusammenhang mit Zedaka beachten, können wir seine Anwendung auch auf alle anderen Mizwot verstehen.

Wenn er einen Armen sieht, wird derjenige, der versucht, die Mizwa von Zedaka zu vermeiden, das Argument von Turnus Rufus verwenden, der R. Akiwa fragte:14 „Wenn euer G-tt die Armen liebt, warum unterstützt Er sie nicht?“ Mit anderen Worten: Aus Gründen der Selbstüberschätzung akzeptiert er seinen Reichtum als das, was ihm zusteht, und hat sogar das Gefühl, dass er noch mehr verdient als das, was er bereits hat; warum sollte er dann etwas davon weggeben? Die Selbstüberschätzung lässt die Realität des anderen nicht zu, und so hält er es für selbstverständlich, dass der andere ihm nicht ebenbürtig ist. Für ihn ist es daher selbstverständlich, dass der andere arm ist, weil er es nicht besser verdient hat. Da es sicher der G-ttliche Wille ist, dass der andere arm ist, warum sollte er ihm dann etwas geben?

Der Demütige, der Bitul verinnerlicht hat, denkt anders:

(a) Er prüft und beurteilt sich selbst, ob er wesentlich besser ist als der andere, und seine Selbstprüfung führt ihn dazu, Wohltätigkeit zu geben. So steht geschrieben: „Du hast Gerechtigkeit und Zedaka in Jaakow getan“15 – d. h., die Gerechtigkeit, nämlich die Selbstbeurteilung, führt ihn zur Zedaka.

(b) Es ist in der Tat möglich, dass die Entbehrung der Armen eine Form der Bestrafung ist, G-tt bewahre. Der Demütige zieht diese Möglichkeit in Betracht, aber er stellt auch fest, dass er selbst trotz seines eigenen mangelhaften Status und Zustandes großzügig gesegnet wurde. So kommt er zu dem Schluss, dass wir alle Kinder G-ttes sind; und – wie im Gleichnis von R. Akiwas Antwort [an Turnus Rufus] – selbst wenn ein König sein eigenes Kind bestraft und ein Freund des Königs diesem Kind dennoch Güte erweist, ist der König selbst in der Tat erfreut über diese Handlung.

Da diese Bedingungen sich auf die Mizwa der Zedaka beziehen, gelten sie auch für alle Mizwot.

IX. Der eingebildete Mensch erfindet Selbstrechtfertigungen für all sein Tun. Und selbst wenn er nicht in der Lage ist, sich zu rechtfertigen, und er gezwungen ist, zuzugeben, dass sein Verhalten unangemessen ist, findet er immer noch alle möglichen Entschuldigungen und hält sich so weiterhin für untadelig.

Für einige Dinge gibt er seinem Jezer haRa die Schuld – der „wie ein loderndes Feuer brennt.“16 Schließlich sagt die Gemara selbst17, dass der Heilige, gesegnet sei Er, die Erschaffung des Jezer haRa bereut; warum sollte er dann dafür getadelt werden, dass er ihn nicht überwunden hat? Für andere Dinge beschuldigt er die Umgebung, dass der Ort, an dem er wohnt, ihn zur Sünde verleitet, und so weiter.

Mit anderen Worten, alle Argumente, die man zur Verteidigung eines anderen verwenden muss, wie im Tanja erwähnt,18 verwendet er zur Verteidigung seiner selbst. Er ist sogar überzeugt, dass sein Status aufgrund seiner persönlichen Umstände lobenswert ist, denn „sicherlich wäre ein anderer unter identischen Umständen bereits sonst etwas gewesen.“

Und selbst wenn er erkennt, dass sein Verhalten nicht korrekt ist und er nicht in der Lage ist, es auf eine äußere Ursache zu schieben, deckt seine Selbstliebe immer noch „alle Pescha-im (Übertretungen)“19 zu. Der Begriff Pescha-im bezieht sich speziell auf rebellische Taten.20 Er hat keine Entschuldigung und weiß, dass er ein Rebell ist, ein vorsätzlicher Übertreter, aber – „die Liebe deckt alles zu.“ Er ist nicht in der Lage, seine Fehler gänzlich zu verleugnen, nicht einmal mit Unwahrheiten, also bedeckt er sich mit Selbstliebe.

X. Hier liegt der Unterschied zwischen Chamez und Mazza.

Chamez steht für Selbstüberschätzung. Chamez wird mit einem Chet geschrieben, unten offen – „die Sünde hockt vor der Tür“, und ist auf allen anderen Seiten geschlossen – was jede Öffnung für Teschuwa ausschließt. Seine Einbildung veranlasst ihn, (a) seine Handlungen zu rechtfertigen, bis zu dem Punkt, dass er sie als gut ansieht; (b) Ausreden und Vernunftsgründe für sein Verhalten zu finden; und (c) seine Selbstliebe deckt alle Übertretungen zu. Kurz gesagt, er wird keine Teschuwa tun.

Mazza bedeutet Bitul, Selbstverneinung. Mazza wird mit einem Hej geschrieben – oben offen, denn sein Bitul hindert ihn daran, (a) sein Verhalten zu rechtfertigen und (b) nach Entschuldigungen zu suchen; und (c) er ist niedergeschlagen, wenn er seinen gefallenen Zustand erkennt.

Es gibt eine Maxime des Rebben Maharasch, die besagt, dass „ein jüdischer Seufzer Teschuwa ila-a (Himmlische Teschuwa) ist“;21 dies trifft auf diese reuevolle Person zu. Und so wird er „in einer Stunde“, d. h. mit einer Umdrehung,22 zu einem vollkommenen Zaddik.

XI. Wir können nun verstehen, wie der Jeruschalmi23 die Anzahl der 39 Hauptkategorien von Arbeit [die am Schabbat verboten sind] aus dem Wort eleh hadewarim (diese sind …) ableitet24 : indem er das Heh von eleh so interpretiert, als wäre es ein Chet, „ist das numerische Äquivalent von eleh 39.“25

Auf Anhieb scheint dies schwer zu verstehen. In der Tat sind Buchstaben, die das gleiche Artikulationsorgan haben, austauschbar, aber wie kann ein Hej in einem numerischen Kontext als Chet gelesen werden?

Die 39 Kategorien der weltlichen Arbeit sind jedoch per Definition mit dem oben erwähnten Konzept des Chet verbunden. Andererseits, im Kontext der Awoda von eleh hadewarim, d. h., wenn diese Arbeiten in Bezug auf den Mischkan (Stiftshütte; Heiligtum) ausgeführt werden, dann „soll in sechs Tagen deine Arbeit getan werden ...“ (von selbst):26 dann werden sie zu einem Hej.27

So erscheint in dem Vers, der von der Awoda von eleh hadewarim – 39 Formen der Arbeit, die mit dem Mischkan zusammenhängen – spricht, das Wort eleh mit einem Hej, weil sie in ein Hej umgewandelt werden.

(Adaptiert aus einer Sicha gehalten am Schabbat Paraschat Wajakhel-Pekudej 5712)