Das Gesicht des Mannes wurde rot vor Zorn. „Was hast Du gesagt?“, bellte er den weiblichen Gast an, der im Wohnzimmer seiner Wohnung saß. Die Dame rückte nervös hin und her. Er drohte mit dem Zeigefinger und sagte: „Ich weiß, wie Du heißt und wo Du wohnst. Wenn Du nicht sofort von hier verschwindest, werde ich Dich umbringen!“ Dieser Moment, der sich in einem kleinen Haus in Be’er Schewa zutrug, war der Wendepunkt für Frau Henni Karniel, eine junge Lehrerin, die völlig hilflos einem Bösewicht gegenüberstand. Sie war vollkommen verängstigt und sehr um ihre Schülerin besorgt, die von ihrem Zimmer aus gelauscht hatte.

Die Geschichte ereignete sich Ende des Jahres 5735 (1975). Zu jener Zeit wohnten Frau Karniel und ihr Mann Amos als Schluchim (des Lubawitscher Rebben Gesandte) im Dorf Maimon und waren im Erziehungswesen beschäftigt. Zu Chanukka desselben Jahres wollte Frau Karniel von ihrem Karenzurlaub zurückkehren und an der Schule neben Netiwot unterrichten. Sie war überrascht, als ihre Chefin ihr vorschlug, eine neue Herausforderung anzunehmen. Die Aufgabe bezog sich auf Kinder mit besonderen Bedürfnissen, welche in Moschaw Tekuma unterrichtet wurden. Es handelte sich um Mädchen mit einem komplizierten gesellschaftlichen Hintergrund, die in einer kriminellen Umgebung mit einem niedrigen Lebensstandard aufgewachsen waren. Die meisten von ihnen hatten schon Verbrechen verübt. Frau Karniel musste sich mit schrecklichen Lebensgeschichten auseinandersetzen, die ihr zusetzten. Einige der Mädchen konnten weder lesen noch schreiben.

Frau Karniel schrieb einen Brief an den Lubawitscher Rebben und fragte, was sie tun soll. Der Rebbe bestärkte sie darin, die Aufgabe anzunehmen und leitete sie sogar an, wie sie einen Weg zu den Herzen der Mädchen finden würde: „Worte, die aus dem Herzen kommen, erreichen das Herz Anderer“. Frau Karniel verstand, dass ihre bedingungslose Zuneigung zu den Mädchen einen Einfluss auf sie haben würde.

Es war keine leichte Arbeit für sie. Frau Karniel musste Geduld üben, kreativ sein und vor allem ihrer Mission treu bleiben. Doch langsam begann eine Besserung des Benehmens der Mädchen um sich zu greifen. Das Jahr endete mit großem Erfolg und über allen Erwartungen. Mit der Unterstützung der Familie Karniel begaben sich die Mädchen auf den richtigen Weg und schrieben sich bei einer religiösen Schule ein. Alle – bis auf ein Mädchen. Es handelte sich um ein Mädchen, dessen Mutter mit einem Araber zusammenlebte, der es davon abhielt, in eine religiöse Schule zu gehen. Jedes Bitten und Fehlen stießen auf taube Ohren. Der Mann erwies sich als äußerst stur und blockierte jegliche Möglichkeit, dem Mädchen eine jüdische Erziehung zu geben. Frau Karniel blieb keine andere Möglichkeit, als an die Türe der Familie in Be’er Schewa zu klopfen und sich dem Mann gegenüberzustellen. Doch eine solch gewalttätige Reaktion hatte sie nicht erwartet. Noch nie zuvor hatte sie solche Drohungen erhalten. Der mörderische Blick des Mannes unterstrich die Ernsthaftigkeit seiner Worte. In ihrem Schmerz wandte sie sich mit einem Brief an den Rebben. Nach kurzer Zeit erhielt sie seine Antwort. Der Rebbe wollte das Geburtsdatum des Mädchens wissen. Frau Karniel konnte dies aufgrund ihrer früheren Unterrichtstätigkeit nennen. Der Rebbe bat Frau Karniel, von nun an jeden Tag das Kapitel Tehillim zu lesen, welches mit dem Lebensjahr des Mädchens korrespondierte. Frau Karniel hielt sich an die Anweisung und las jeden Tag das betreffende Kapitel. Es verging kein Tag, an dem sie nicht an das Mädchen dachte. Jedes Jahr las sie am Geburtstag des Mädchens das nächste Kapitel. Sie dachte stets: „Das werde ich wohl noch mein ganzes Leben fortsetzen müssen“.

14 Jahre gingen vorüber. Eines Jahres, kurz vor Schawuot, wurde Amos Karniel zu einer Veranstaltung im Bet Chabad in Sichron Jakov eingeladen, die den Kindern die notwendige Vorbereitung auf die Übergabe der Thora geben sollte. Während der Veranstaltung kam eine Frau in Begleitung eines etwa 10-jährigen Mädchens zur Vorderseite der Halle. „Herr Lehrer!“, rief sie aufgeregt, „Ich muss mit Ihnen reden!“. Amos war überrascht und sagte: „Geht in Ordnung, warten Sie hier, bis die Veranstaltung vorbei ist und dann können wir uns unterhalten“. Doch die Frau ließ nicht locker: „Sie sind der Mann meiner Lehrerin aus Tekuma, stimmt das?“. Rabbi Karniel nickte. „Wer sind Sie?“, fragte er. Die Frau sagte ihren Namen und fügte hinzu: „Ich suche Ihre Frau schon sehr lange. Ich muss mit ihr sprechen“.

Das Telefonat der beiden war voller Emotionen. Aus den Augen der beiden flossen die Tränen. Die Frau erzählte ihre Lebensgeschichte, ihren Absturz und wie sie von Aktivisten der Organisation „Jad LeAchim“ aus dem arabischen Dorf gerettet wurde. Sie erzählte, wie sie eine richtige jüdische Familie gründete und ihnen ein Mädchen geboren wurde. „All die Jahre – ich weiß nicht warum – habe ich mich an Sie erinnert, meine geliebte Lehrerin“, sagte sie.

Nun konnte Frau Karniel das Geheimnis lüften. Sie erzählte ihr von der Anweisung des Rebben. „Während der letzten 14 Jahre habe ich mich daran gehalten, jeden Tag Dein Kapitel Tehillim zu lesen und für Dich zu beten. Ich bin mir sicher, dass diese Gebete Dich gerettet haben!“