Reb Dow Ber von Lubawitsch war der Sohn und Nachfolger von Rabbi Schneur Salman, dem Gründer des Chabad-Chassidismus. Als junger Mann traf er einmal bei einem Besuch in Janowiz einen der Chassidim seines Vaters. Beide waren im gleichen Alter, und sie begannen, sich über die Tora und den jüdischen G-ttesdienst zu unterhalten.

Reb Dow Ber setzte die Gelehrsamkeit und Frömmigkeit seines Freundes herab. Dieser war empört. „Wie kannst du so etwas sagen?“, rief er. „Wer ist dein Vater, und wer ist meiner? Dein Vater ist unser Rebbe, und jeder weiß, welche spirituelle Höhe er erreicht hat. Als es Zeit war, eine Seele in diese Welt zu bringen, haben er und deine Mutter zweifellos eine reine und edle Seele gerufen. Und als du aufgewachsen bist, hat deine Familie sorgsam darauf geachtet, dass dir weder körperliches noch seelisches Leid geschah. Du hast die bestmögliche jüdische Erziehung genossen und warst immer von Menschen umgeben, deren Charakter und Religiosität vorbildlich waren. Darum ist es keine große Leistung, wenn du die Mizwot peinlich genau einhältst und im Torastudium schwelgst und dass deine Seele sich nach ihrem Schöpfer sehnt, wenn du betest! Aber meine Seele wurde wahrscheinlich zufällig aus der Lagerhalle für Seelen da oben hinausgefegt. Ich wuchs wie jedes andere jüdische Kind auf. Mein Eltern versuchten mühsam, Essen auf den Tisch zu bringen und sich gleichzeitig um mich zu kümmern. Ja, ich habe im örtlichen Cheder gelernt, aber meine Spielkameraden waren gewöhnliche Kinder wie ich. Und wie verdiene ich jetzt mein Brot? Ich borge den Bauern Geld, damit sie im Frühjahr Saat kaufen können. Aber das ist nicht das Problem. Hart ist die Arbeit im Winter – dann muss ich nämlich meine Forderungen eintreiben. Das ist ein kompliziertes Ritual! Ich muss eine Flasche Wodka mitbringen, und natürlich muss ich nachts reisen, denn im Winter stehen die Bauern auf, wenn es noch dunkel ist. Wenn ich das Haus des ersten Bauern erreicht habe, muss ich mit ihm und seiner Frau ein wenig L´Chaim machen, sonst hat er keine Lust, übers Geschäft zu sprechen. Nachdem ich mit ihm alles geregelt habe, gehe ich zum Nächsten weiter. Auch mit ihm muss ich ein Glas leeren, bevor es geschäftlich wird. Und so geht es weiter, bis ich mein Geld von drei oder vier Leuten bekommen habe. Dann ist es draußen hell. Ich eile nach Hause, tauche in die Mikwa wie jeder Chassid und spreche mit der Gemeinde mein Morgengebet. Du kannst dir vorstellen, wie innig man nach einem solchen Morgen betet! Danach nutze ich einige kostbare Minuten für das Torastudium, ehe ich wieder die Bauern besuche.“

In Wahrheit betete dieser Chassid mit höchster Hingabe und Konzentration und war ein eindrucksvoller Toragelehrter. Da er jedoch bescheiden war, unterschätzte er sich sehr. Als der junge Reb Dow Ber seine Worte gehört hatte, war er überwältigt. Er kehrte sofort zu seinem Vater, dem Rebbe, zurück, erzählte ihm alles und beklagte seine unzureichende spirituelle Entwicklung. Alles, was er bisher erreicht hatte, kam ihm nun wertlos vor.

Als der Chassid aus Janowiz wieder einmal nach Liosna zum Rebbe kam, sagte dieser zu ihm: „Ich danke dir! Du hast aus meinem Sohn einen Chassid gemacht!“