„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“
(Levitikus 19:18)

Rabbiner Akiwa sagte: „Dies ist ein fundamentales Prinzip der Tora“
(Raschi)

Biblische Kommentare haben es nicht leicht, den Satz „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ zu verstehen. Menschen sind natürlicherweise egozentrisch und sind mit ihrem eigenen Leben beschäftigt. Wenn man jemandem verspricht, ihm zu helfen und seine Zeit und Energie zur Verfügung zu stellen, dann stellt das eine ungeheuerliche Selbstaufopferung dar. Es ist nicht einfach, sich dem Eigeninteresse zu entziehen. Selbst in gehobener Position ist man mit sich selbst beschäftigt. Das Torastudium ist niemals beendet, und die Verpflichtung, sich geistig weiterzuentwickeln, ist unbegrenzt.

Nichtsdestotrotz verlangt wahre Beschäftigung mit anderen Juden viel mehr als nur das Teilen von Zeit und Wissen. Man investiert sich emotional in diesen Menschen. Seine Freude ist deine Freude, seine Sorgen sind deine Sorgen, sein Leid ist dein Leid. Wie ist es aber möglich, sein Eigeninteresse so beiseite zu lassen, dass ein anderer gleichwichtig wird, d.h. dass man den anderen liebt wie sich selbst?

In der Tora gebietet G-tt uns auch, jeden anderen „wie dich selbst“ zu „lieben“. Wie kommt es, dass G-tt ein Gefühl gebieten kann? Wenn wir das Gebot hätten, andere mit Respekt oder Liebenswürdigkeit zu behandeln, dann wäre das einfacher zu befolgen. Wie kann jemand sich selbst jedoch zwingen, ein bestimmtes Gefühl zu erleben? Es gibt Menschen die wir mögen, und solche, die wir nicht mögen.

In Kapitel 32 seines klassischen Werkes Tanja gibt Rabbiner Schneur Zalman eine brillante Antwort auf diese Frage. Wie bereits angeführt, erklärt Rabbiner Schneur Zalman zuerst, dass jeder Jude zwei getrennt Seelen besitzt. Die erste heißt Nefesch HaBehamit und die zweite Nefesch Elokit. Diese zwei Seelen wetteifern miteinander darum, die Gedankenwelt zu beherrschen. Die Seele, die den denkenden Geist beherrscht, bestimmt auch darüber, ob der Mensch ein Gerechter (Tzaddik) oder Bösewicht (Rascha) ist.

Die Nefesch Elokit ist eine G-ttliche Seele und Teil der G-ttlichkeit. Daraus folgt, dass alle G-ttlichen Seelen eins sind, da sie alle im einen G-tt wurzeln. So gesehen sind sie wahre Brüder. Sie unterscheiden sich nur durch ihre Körper. Die Nefesch Elokit macht die Quintessenz des Juden aus. Daher stellt das Gebot, jeden Juden zu lieben, die Anweisung dar, sich auf die Quintessenz des anderen Juden zu besinnen und sie als einheitlich mit seiner eigenen Quintessenz zu betrachten. Den Nächsten wie sich selbst zu lieben, kann man dann wörtlich übersetzen. Um seinen Mitjuden lieben zu können, muss man lernen, das Äußere beiseite zulassen und sich auf die wahre Quintessenz zu besinnen. Körper sind getrennt, aber Seelen sind eins. Aus diesem Blickwinkel betrachtet kann man alle Unterschiede beiseite lassen und Juden sind mit Juden verbunden.

Wenn man einen Mitjuden so liebt, dann bedeutet dies, dass man sich darin übt, sein Ego zu verkleinern. Man kann solch eine Ebene nur erreichen, indem man die Seele als primär und den Körper als zweitrangig erachtet. Wenn man den Körper als vorrangig betrachtet, dann ist es unmöglich, den anderen wie sich selbst zu lieben, da die Liebe von Äußerlichkeiten abhängig ist. Diese Liebe wird in den Sprüchen der Väter (Kapitel 5:16) eine „abhängige Liebe“ genannt. Wenn man den anderen liebt, weil man hofft, dadurch etwas Bestimmtes zu erhalten, oder wegen seines oder ihres äußeren Erscheinungsbildes, dann nennt man dies eine abhängige Liebe. Die Tatsache, dass der Mitjude eine Nefesch Elokit besitzt, ist Grund genug, ihn oder sie zu lieben. Beide Seelen sind in ihrer Wurzel vereinigt, die auf ihrem Weg in diese Welt unterschiedliche Aufträge in verschiedenen Körpern bekommen.

Zusammengenommen stellen alle G-ttlichen Seelen die Schechina in dieser Welt dar.

Daraus folgt, dass die Ursache für Streit und grundlosen Hass zwischen Juden die Tatsache ist, dass sie sich nicht ihres gemeinsamen Wesens bewusst sind. Deshalb sagt man dann, dass die Schechina im Exil ist. Wenn wahre Liebe zwischen Juden besteht, dann wird die Schechina offenbart. So können wir jetzt verstehen, warum dem Talmud gemäss der zweite Tempel aufgrund grundlosen Hasses zerstört wurde, und dass Moschiach nur durch bedingungslose Liebe kommen wird.

Der Arisal schreibt, dass alle Seelen Israels als ein großer Körper angesehen werden können. Es gibt Seelen, die den „Kopf“ dieses Körpers darstellen. Andere Seelen repräsentieren die „Füße“. Obwohl jede Seele ihren spezifischen Sinn und Zweck erfüllt, so wie jedes Köperteil seine bestimmte Funktion hat, sind sie doch letztendlich alle Teil eines Körpers. Es folgt außerdem daraus, dass, wenn ein Körperteil eine Mitzwa ausführt, dies für den ganzen Körper gut und gesund ist.

Im Jerusalem-Talmud wird das Gebot, seinen Mitjuden zu lieben, erklärt: Wenn ein Mann ein Stück Brot schneiden und sich dabei die Hand verletzen würde, könnte man sich vorstellen, dass dann die eine Hand die andere zur Strafe schlagen würde? Entsprechend ist es nicht unsere Pflicht, wenn wir andere Juden sehen, die gerade die Mitzwot vernachlässigen, sie zu ermahnen. Vielmehr ist es unsere Pflicht, uns ihnen in Liebe zuzuwenden. Jeder Jude sollte den anderen als Teil eines Körpers betrachten. Wenn man den Gedanken, dass alle Juden Teile desselben Körpers sind, entwickelt, dann erfüllt man tatsächlich damit dieses Gebot.

Der Baal Schem Tow sagte, dass man einen Juden lieben sollte, selbst wenn man ihn oder sie noch nie getroffen habe. Dieses Prinzip trifft sowohl im geographischen wie auch im geistigen Sinne zu. Selbst wenn Juden sehr weit von der Tora und den Geboten entfernt sind, muss man sie liebenswürdig und freundlich behandeln. Nur so werden sie überhaupt erst toratreu werden wollen.

Die heutige Generation ist die des Tinok Schenischba. Dies ist ein Talmudischer Ausdruck, der ein „Kind, das (im jungen Alter) entführt wurde“ beschreibt. Die große Mehrheit der heutigen Juden wurde nicht in einer Tora treuen Umgebung erzogen. Daher sollten Tora treue Juden ihre Tora untreuen Mitjuden nicht schelten. Der korrekte Ansatz, mit den Worten der Tanja (Kapitel 32) ausgedrückt, bedeutet, sie „mit Seilen der Liebe“ zurück zu ihrem Erbe zu ziehen.

Man sollte den Spruch von Hillel (Sprüche der Väter, Kapitel 1:12) befolgen, der besagt: „Sei einer der Schüler Aarons, der Frieden liebt und ihn verfolgt, die Geschöpfe liebt und sie zur Tora führt.“ Diese Anweisung ist zweiteilig. Wir haben im Kapitel 24 „Tora-Studium“ gelernt, dass ein Jude sich durch die Tora mit G-tt verbindet. Daher erweist man Mitjuden den größten Liebesdienst, wenn man sie der Tora nahe bringt. Gleichzeitig warnt Hillel davor, die Tora den Geschöpfen nahe zu bringen, d.h. die Werte der Tora sollten niemals verwässert werden, um den zu helfen, die - warum auch immer - die Gesetze (noch) nicht halten.

Der Baal Schem Tow sagte, dass Ahawat Yisrael (Liebe der Mitjuden) das erste Portal ist, das zum Hof G-ttes führt. Dies basiert auf der Sohar-Lehre: „G-tt, Tora und Israel sind eins“. Daraus folgt, dass die G-ttesliebe, Toraliebe und Liebe der Mitjuden eins sind. Da das Wesen Gottes, der Tora und Israels eins (und daher untrennbar) sind, begreift man, wenn man einen Teil des Wesens begreift, das ganze Wesen. Daher ist die Liebe der Mitjuden ein hervorragendes Barometer für die Gottesliebe. Wenn Juden unter einem Mangel an Ahawat Yisrael leiden, dann haben sie auch ein Defizit an Ahawat HaSchem (G-ttesliebe), denn jemand, der den Vater liebt, sollte auf jeden Fall auch dessen Kinder lieben.

Der Baal Schem Tow lehrte auch, dass eine Seele aus dem einzigen Grund in diese Welt herabsteigen kann, um einem anderen Juden einen Gefallen in der dinglichen Welt, - und natürlich noch viel mehr in der geistigen Welt - zu tun. Wenn das so ist, dann müssen wir uns fragen, wie wir unsere Verantwortung gegenüber einem Mitjuden in der geistigen Sphäre vernachlässigen können? Der Lubawitscher Rebbe hat einmal über dieses Lehre gesprochen und eine interessante Frage gestellt: Wie finden wir heraus, welchen Auftrag unsere Seele hat? Seine Antwort war, dass man es nicht weiß. Daher sollte man jeden Gefallen als genau den Grund betrachten, warum unsere Seele in diese Welt gekommen ist.