Im Talmud wird die Geschichte eines Diebes berichtet, der G-tt um Erfolg bittet. Ist dieser Dieb ein Gläubiger oder nicht? Wenn er gläubig ist, warum stielt er dann? Und wenn er kein Gläubiger ist, warum betet er dann? Die Antwort ist, dass er an G-tt glaubt. Er hat jedoch seinen Glauben (noch) nicht insoweit verinnerlicht, als dass er sich auf sein ganzes Denken, Fühlen und Handeln ausgewirkt hat. Glaube muss verstandesmäßig begriffen, verinnerlicht und ins Handeln integriert werden. Das ist der Sinn jüdischer Meditation. Leider haben die meisten Juden heutzutage noch nichts von jüdischer Meditation gehört. Daher meditieren nur sehr wenige Juden regelmäßig. Viele Menschen assoziieren Meditation mit östlichen Religionen, und nur wenige bringen Meditation mit einem regulären G-ttesdienst in der Synagoge in Verbindung. Tatsächlich ist jedoch die Meditation ein wesentlicher Bestandteil unserer Religion und die Grundlage dafür, die Gebote zu halten. Es gibt 613 Mitzwot (Gebote) in der Tora. Sechs davon müssen wir jede Sekunde halten. Wenn man sie sich genauer ansieht, stellt man fest, dass sie das Fundament der Einhaltung der Gebote sind. Es sind:

1. An G-tt zu glauben;
2. Seinen Namen zu heiligen;
3. G-tt zu lieben;
4. Ehrfurcht vor G-tt zu haben;
5. Den anderen Juden zu lieben;
6. Sich nicht durch sein Herz oder seine Augen in Versuchung führen zu lassen.

Der erste Schritt ist, an G-tt zu glauben und Ihn zu kennen, wie es in Deuteronomius 4:39 geschrieben steht: „Wisse heute und nimm es dir zu Herzen, dass der Herr G-tt ist. Oben im Himmel und auf der Erde gibt es nichts anderes.“ Wir verkünden Seine Einheit, indem wir zweimal am Tag, morgens und abends, sagen: „Höre Israel, der Ewige ist unser G-tt, der Ewige ist Einer.“ Solche tief greifende Aussagen können nicht nur einfach daher gesagt werden. Sie müssen vielmehr durch tiefgründige Kontemplation begleitet werden. Um ihnen gerecht zu werden, muss man sich eingehend mit der Natur G-ttes, der Kettenordung, dem Sinn der Schöpfung befassen, und dann darüber eingehend meditieren. Der Sinn und Zweck dieser Meditation ist es, Liebe und Ehrfurcht vor G-tt zu erwecken, die es dann ermöglicht, die Tiefsinnigkeit dieser genannten Aussagen zu begreifen.

Der Sohar nennt Liebe und Ehrfurcht die zwei Flügel, mit denen der Vogel nach oben schwebt. Man wird durch Liebe und Pflichtgefühl dazu angeregt, alle positiven Gebote zu halten. Durch Furcht wird man davon abgeschreckt, die negativen Gebote zu brechen. Es gibt natürlich viele Ebenen der Liebe und der (Ehr-) Furcht, was in vielen Chassidischen Texten eingehend erörtert wird. In den heiligen Schriften wird das Wort Yira verwendet, das allgemein als G-ttesfurcht übersetzt wird. Das Wort „Furcht“ deutet jedoch auf die Furcht vor Bestrafung hin, also die niedrigste Stufe der Furcht. Tatsächlich ist es angemessener, Yira als „Ehrfurcht“ zu übersetzten, da das Wort Ehrfurcht eingehendes Bewusstsein des Allm-chtigen beinhaltet. Anfangs kann man durch Furcht vor Bestrafung davon abgeschreckt werden, eine Sünde zu begehen, aber letztendlich sollte ein tief sitzendes Gefühl der Ehrfurcht zusammen mit dem Verlangen, nicht dem G-ttlichen Willen zu widersprechen, als Abschreckungsmittel dienen.

Der Maggid von Mezritch fragte einmal: „Wie kann G-tt ein Gefühl befehlen?“ In der Tora heißt es „Liebe den H-rrn, deinen G-tt“ sowie „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Liebe ist eine sehr starke, private Emotion. Wie kann G-tt von uns verlangen, dass alle seine Geschöpfe Ihn und sich gegenseitig lieben? Kann man ein Gefühl auf Verlangen einschalten? Der Maggid antwortet, dass das Gebot nicht beinhaltet, dass man sofort Gefühle entwickeln soll, sondern dass das Gebot verlangt das Meditieren. Eingehende Meditation und Kenntnis G-ttes bringen einen dazu, Ihn zu lieben, und wenn man über den G-ttlichen Kern jedes Individuums (wie dies in Kapitel 26 erklärt wird) nachdenkt, dann kommt man dazu, jeden Menschen (oder jeden Juden?) zu lieben. Die G-ttesliebe und -ehrfurcht der Menschen spiegeln sich in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen wieder, sowie in ihrer festen Absicht, ihrem Herz und ihren Augen nicht zu folgen, wie es der Baal Schem Tow erklärte: „Die Pforte zu G-tt ist die Nächstenliebe“.

Wenn wir diese Idee auf die täglichen Gebete anwenden, dann wird es klar, dass effektive Gebete Meditation beinhalten müssen. Obwohl Gebet im klassischen Sinne eine Bitte an G-tt ist, setzt sich das Gebet im tieferen Sinne aus zwei Seelenbewegungen zusammen: Man meditiert darüber, dass man seine Seele mit G-tt verbinden will, und gleichzeitig kommuniziert man mit seiner Nefesch HaBehamit (tierischen Seele), um seinen Charakter zu verfeinern (siehe Kapitel 22 und Kapitel 27).

Die jüdischen Weisen haben die Gebete so zusammengestellt, dass jede Stufe der Gebete einer Stufe auf der Meditationsleiter entspricht. Wir beginnen mit Mode Ani, einem einfachen Glaubensbekenntnis. In den Morgensegenssprüchen drücken wir dann unseren Dank für unsere Fähigkeiten und unser Wohlergehen gegenüber G-tt aus. Als nächstes gehen wir zu dem Abschnitt über, wo die täglichen Opfer (Korbanot) beschrieben werden. Das Wort „Korban“ bedeutet „Es zu sich holen“. Im geistigen Sinne bedeutet das, dass wir alle unsere animalistische Natur auf dem Altar des Herzens opfern müssen. Durch leidenschaftliche G-ttesliebe können wir Übermaß und Schwelgung vernichten und uns dem wahren G-ttesdienst nähern. Danach lesen wir die Pesukei D’Simra (Preisgesang), wo wir von G-ttes Güte und Allmacht überwältigt werden. Anschließend sprechen wir über den G-ttesdienst der Engel, wie sie in Ehrfurcht stehen und täglich G-tt lobpreisen. Dann verkünden wir G-ttes absolute Einheit im Schema. Wir werden uns bewusst, dass G-tt alles ist und alles G-tt(lich) ist. Erst dann stehen wir in der Amida, dem Bittgebet.

Dieses tägliche Gebet kann nicht in Eile oder ohne Vorbereitung durchgeführt werden. Es ist wichtig, dass man erkennt, dass die Ordnung und die Worte präzise und sinnvoll sind. Man muss das Gebet sowohl wörtlich als auch konzeptuell verstehen. Darüber hinaus sollten wir es persönlich gestalten, indem wir darüber nachdenken, welche Bedeutung die Gebete für uns persönlich haben, wie sie uns helfen können, uns zum Guten zu verändern, und wie sie sich auf unser tägliches Leben auswirken werden. Meditation ist nicht nur ein Hilfsmittel, um die Worte der Gebete zu verstehen, sondern ermöglicht es uns auch, diese Worte in unserem täglichen Leben umzusetzen, - besonders, wenn wir mit unseren tagtäglichen Aktivitäten beschäftigt sind, die manchmal so fern von offensichtlicher G-ttlichkeit erscheinen. Deshalb halten Chassidim es für sehr wichtig, dass man vor dem Gebet Chassidische Texte liest. Das gibt dem Herz und Verstand einen Brennpunkt und eine Sprache, mit der man meditieren, integrieren und internalisieren kann. Am wichtigsten ist es, dass man sich daran gewöhnt, eine tief greifende spirituelle Erfahrung nicht durch dahergesagte Gebete zu erlangen, sondern vielmehr durch geistige und körperliche Anstrengung.

Meditation will geübt und gelernt sein. Für den Anfänger wäre es gut, zu entscheiden, dass man vor dem Gebet einige Momente ruhig sitzt und sich vergegenwärtigt, vor wem man steht. Man sollte eine Chassidische Abhandlung eingehend lesen, die G-ttes Einheit, also die Liebe und Ehrfurcht vor G-tt, detailliert erklärt. Man sollte über diese Abhandlung regelmäßig nachdenken. Vor allem sollte diese Meditation nicht nur oberflächlich sein, sondern ins Detail gehen. Je detaillierter die Meditation, umso stärker wird ihre Auswirkung auf uns sein.