„Das Wesentliche ist die Tat“ |
Die Tora wird oft als Torat Chaim (lebendige Tora) bezeichnet. Die Tora definiert das Leben und das Wesen des jüdischen Volkes. Es gibt 613 Mitzwot in der Tora. In diesem Kapitel werden wir uns genauer betrachten, wie diese Gebote der Menschheit zugute kommen, die Schöpfung verfeinern und als Medium zwischen uns und G-tt agieren.
WIE DIE GEBOTE DER MENSCHEIT ZUGUTE KOMMEN
Gebotstreue führt zu einem guten Leben auf dieser Welt. G-tt, der Schöpfer des ganzen Universums, weiß bestimmt am besten, was das Beste für die Menschheit und die Welt ist. G-tt hat sein Wissen nicht von uns ferngehalten, da G-tt gut ist, und es die Natur des Guten ist, gut zu sein. In seiner unendlichen Güte hat G-tt uns mitgeteilt, dass man, wenn man sich auf eine bestimmte Art und Weise verhält, dann eine gesunde Seele haben wird, mit der man auf die Umstände, in denen man sich vorfindet, auf eine gesunde Art und Weise umgehen kann. Die Vorteile werden einem in dieser und der Zukünftigen Welt zugute kommen. Es ist offensichtlich, dass man, wenn man ein gutes Leben haben will, G-ttes Anweisungen folgen sollte, selbst wenn es dabei einige Aspekte der Gebote gibt, die irrational oder restriktiv erscheinen könnten.
Tatsächlich gibt es viele Aspekte in unserem täglichen Leben, die wir akzeptieren und unverzüglich verfolgen, selbst wenn wir uns nicht ganz sicher sind, wie sie funktionieren. Zum Beispiel besteigen wir ein Flugzeug, ohne erst die Aerodynamik zu überprüfen, um so sicherzustellen, dass es flugtüchtig ist. Oder wenn man Kopfschmerzen hat, wird man ein Medikament nehmen, ohne erst Biochemie oder Pharmazie zu studieren.
Dasselbe Prinzip kann auf unsere seelische Gesundheit angewendet werden. Es ist ziemlich sicher, wenn wir die Möglichkeit hätten, ohne Ablenkung alle möglichen Experimente auszuführen, zu derselben Schlussfolgerung kommen würden, die wir schon in der Tora finden, - nämlich, den jüdischen Ernährungsgesetzen, Schabbatgesetzen etc. gemäss zu leben. Der Grund dafür ist, dass die Tora die Wahrheit und das letztendlich Gute für die Menschen darstellt.
Um es mit einfachen Worten auszudrücken: Die Gebote (Mitzwot) nicht kein Regelsystem, das uns zur Einschränkung unserer Freiheit gegeben wurde. Die Gebote sind vielmehr der Weg zu einem bereicherten Leben. Am Beispiel des verpflichtenden Ruhetages, Schabbat, kann dieser Punkt verdeutlicht werden. Menschen, die sieben Tage die Woche arbeiten, nehmen sich keine Zeit, ihre seelischen Batterien aufzuladen. Selbst die wenige Freizeit, die sie sich gönnen, wird oftmals damit verbracht, den Körper im Fitness-Studio oder auf dem Golfplatz fit zu halten, während die Seele vernachlässigt wird. Obwohl vielen Menschen die Schabbatgebote restriktiv erscheinen mögen, schaffen die Einschränkungen tatsächlich eine Atmosphäre, in der man persönliches, familiäres und seelisches Wachstum fördern kann.
Den Weisen gemäss gibt es „keinen Menschen, der frei ist, - es sei denn, er widmet sich dem Torastudium“. Oberflächlich betrachtet könnte diese Aussage überraschend erscheinen, da die Tora den Juden viele Einschränkungen auferlegt. Wie kann man dann durch Toratreue freier sein? Die Antwort ist, dass alle Menschen ihre eigene Form der Gefangenschaft, „ihr eigenes Ägypten“ haben. Manche Menschen lassen sich von ihrem Beruf versklaven, andere von ihrem Körper. Einige beten Geld an, andere Macht. Die Tora enthält das Gegenmittel, das einen Menschen aus der persönlichen Gefangenschaft befreien kann. Sie bringt uns dazu, dass man die Qualität sowohl dieser als auch der zukünftigen Welt verbessern kann.
G-tt ist nicht ein rücksichtsloser Diktator, der darauf besteht, dass seine Untertanen Gesetze befolgen, die weder Sinn noch Verstand haben. G-tt ist gütig und möchte der Schöpfung Gutes tun. Sein größter Dienst am Menschen war es, uns die lebendige Tora zu geben, da sie einen Lebensweg beschreibt, der uns körperlich und seelisch zugute kommt. Indem wir G-ttes Wege nachahmen, erhöhen wir unseren Status. Das kommt uns in der Zukünftigen Welt zugute und führt in dieser Welt zu einem sinnvollen und erfüllten Leben.
WIE DIE GEBOTE DIE SCHÖPFUNG VERBESSERN
Über den Nutzen hinaus, den wir von den Mitzwot in dieser Welt haben, lernen wir in der Midrasch, dass uns die Gebote gegeben wurden, um die Schöpfung zu verbessern. Sowohl der Mensch, der das Gebot erfüllt, als auch das Objekt, mit dem das Gebot erfüllt wird, werden verbessert. Zunächst wollen wir untersuchen, wie die Mitzwa den Menschen berührt, der es erfüllt.
Die erste Bedingung der Gebote ist, dass sich die Menschheit ihnen total unterwirft. Dies wird im Hebräischen „Kabbalat Ol Malchut Schamayim“ (sich der Herrschaft des Himmlischen Königreiches unterwerfen). Dies wurde vor dem Erhalt der Tora deutlich, als die Juden „Na’ase VeNischma“ („Wir werden es tun und wir werden es hören“) sagten, womit sie Annahme der Gebote vor ihr Verständnis stellten. Die Mitzwot sind der Disziplinarkodex, der der starken tierischen Seite der Menschheit ein Joch auferlegt und damit ihre beachtlichen Energie darauf ausrichtet, G-tt zu dienen.
Das ist die Bedeutung des Ausdruckes Awodat Haschem. Die Wurzel des Begriffes „Awoda“ ist dem Wort „Ibud“ ähnlich, das im Bezug auf Leder die Bedeutung „gerben“ hat. Im Verlauf des Gerbens wird ein sehr raues Stück Tierhaut bearbeitet, bis es in ein geschmeidiges Stück Leder oder Pergament verwandelt worden ist. Was derb war wurde verfeinert. Awodat Haschem bedeutet, dass man eine grobe Nefesch HaBehamit verfeinert und ihre Energie darauf ausrichtet, G-tt zu dienen.
Wie in Kapitel 16, „Kelipot und Sitra Achra“, erläutert, stammt die Nefesch HaBehamit von Kelipat Noga. Noga (Licht). Daher ist, wie durch den Namen angedeutet, Kelipat Noga eine Kelipa (Schale), die gefördert, erhellt und erhöht werden kann. Wenn ein Mensch ein Gebot erfüllt, das physischer Anstrengung bedarf, dann wird die ganze Nefesch HaBehamit dafür verwendet, G-tt zu dienen. Damit wird sie erhöht. Ein gutes Beispiel dafür ist das Gebot Tzedaka (Almosen). Wenn man den ganzen Tag hart arbeitet, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen und dann einen Teil dessen, was man verdient hat, der Tzedaka zukommen lässt, dann hat man tatsächlich die Energie gespendet, die man dazu verwendet hat, dieses Geld zu verdienen. In dieser Hinsicht ist Tzedaka ein ausgezeichneter Repräsentant aller Gebote.
Darüber hinaus wird nicht nur die Hand, die tatsächlich die Tzedaka gab, vom Niveau der Kelipat Noga auf die Ebene der Keduscha (Heiligkeit) gebracht, sondern auch das Essen und Trinken, das uns die Kraft gab, dieses Gebot zu erfüllen. In der Kabbala steht geschrieben, dass die Gemeinde Israels, die aus 600 000 Seelen besteht, die allgemeine Energiequelle für die ganze Welt darstellt. Außerdem heißt es dort, dass die ganze Welt für diese Seelen geschaffen wurde. Jedem dieser Seelen, die weiterhin in 600 000 Unter-Seelen aufgeteilt sind, ist ein Sechshunderdtausendstel der ganzen Welt gewidmet, das durch sie verbessert und erhöht werden soll. Diese Erhöhung wird dadurch bewirkt, dass man isst, trinkt und seine Wohnung dazu verwendet, G-tt zu dienen. In dieser Hinsicht wird der Teil der Welt, der dieser Seele zugeteilt ist, tatsächlich ein Dira BeTachtonim (Wohnstätte für G-tt in den tieferen Welten).
Wir können diese wellenförmige Auswirkung der Gebote einfach am Brotessen am Schabbat sehen. Am Freitagabend legt man beide Hände auf die beiden Challot (Brote, die am Schabbat und an Feiertagen verwendet werden) und sagt den Segensspruch Hamotzi, der G-tt dafür dankt, dass er „Nahrung aus der Erde hervorbringt“. Man stelle sich nun vor, dass das Challa das Endprodukt einer riesigen Produktionskette darstellt. Der Bauer hat den Weizen gesät, das Feld bewässert und gejätet. Dann hat er das Feld abgeerntet und das Getreide in die Mühle zum Malen gebracht. Anschließend brachte er das Mehl zum Bäcker. Dieser hat das Weizenmehl mit den anderen Zutaten vermischt und daraufhin das Challa im Ofen gebacken. Viele Menschen sind an dieser Produktionskette beteiligt: Der Bauer, die Feldarbeiter, der Lastwagenfahrer, der die Zutaten zur Bäckerei gebracht hat, der Bäcker usw. Wenn ein Jude diese zwei Challot hochhebt und G-tt als den Brotversorger dankt, dann wird diese ganze Produktionskette erhöht.
MITZWOT – EINE VERBINDUNG MIT G-TT
Obwohl die Tora und Gebote der Menschheit zugute kommen und ihr gegeben wurden, um die Schöpfung zu verbessern, gibt es noch eine viel bedeutsamere Qualität der Mitzwot. Die Gebote machen es möglich, die Begrenzungen durch Zeit und Raum zu überwinden und sich mit seinem Schöpfer zu verbinden.
Die Tora und Gebote bilden eine Brücke, die die Schlucht zwischen Schöpfer und Geschöpf überwindet. Dadurch kann man als menschliches Wesen aufsteigen und sich mit G-ttlichkeit verbinden. Diese Brücke wurde von G-tt geschaffen, da nur Er diese Schlucht überwinden kann. Einem begrenzten Wesen ist es ganz und gar unmöglich, eine eigene Brücke zum Unendlichen zu schaffen. Denn welch spirituelle Brücke man auch bauen möge, - sie wird immer durch die Rahmenbedingungen des menschlichen Kopfes begrenzt sein. Dies erklärt, warum man nicht seinen eigenen Weg zu G-tt unabhängig von Tora und Mitzwot bilden kann.
Tora und Gebote sind die Wege, über die sich jeder Einzelne mit G-tt verbinden und diese physische Welt zu einer Wohnstätte für das G-ttliche transformieren kann. Wie wir zuvor erläutert haben, bedeutet das Wort Mitzwa Gebot und Verbindung. G-tt hat die Menschheit erschaffen, um in dieser Welt zu leben und sie durch die Gebote mit G-ttlichkeit zu verbinden, zu durchdringen und zu erhöhen.
In Kapitel 24 „Tora-Studium“ haben wir Tora als G-ttliche Weisheit, und Mitzwot als G-ttlichen Willen definiert. Die Quintessenz G-ttes, Seines Willens und seiner Weisheit sind eins. Deshalb sind wir, wenn wir uns dem Torastudium widmen und die Gebote ausüben, in totaler Zwiesprache mit G-tt. Obwohl der G-ttliche Wille in das Materielle eingehüllt ist, wird die Verbindung mit G-tt nicht durch das Materielle beeinflusst. Dies kann mit einem König verglichen werden, der mit vielen verschiedenen Kleidungsstücken bekleidet ist. Wenn man den König umarmt, dann berührt man zwar nur sein äußerstes Kleidungsstück, aber es ist trotzdem der König, der sich in diesen Kleidungsstücken befindet. Ebenso ist diese materielle Welt, in der diese Gebote gehalten werden, nur ein äußeres Kleidungsstück des G-ttlichen Willens, der sich in darin befindet.
Darüber hinaus werden wir ein, wenn wir ein Gebot ausführen, ein Instrument des G-ttlichen Willens und rufen G-ttliches Wohlwollen für uns und die Welt hervor. In Tikkunei Sohar lernen wir, dass die 248 positiven Gebote den 248 Organen des Körpers entsprechen. Die Mitzwot stellen G-ttes Willen dar, und jedes einzelne Gebot, das einem bestimmten Körperorgan entspricht, ist ein Ausdruck eines bestimmten Aspektes seines Willens. Jede Mitzwa ruft eine bestimmte Antwort hervor, die diesem Gebot angemessen ist. Wenn wir Almosen geben, dann streckt G-tt seine Hand aus, um die Welt zu beglücken. Wenn wir Mitleid mit anderen haben, denen es weniger gut geht, dann hat G-tt mit uns und der Welt Mitleid.
Eine ähnliche G-ttliche Reaktion entsteht, wenn wir uns von verbotenen Taten fernhalten. Wenn wir zum Beispiel unseren Drang bezwingen, über andere Menschen zu tratschen, dann werden die Kräfte des Bösen unterdrückt. Selbst die kleinste Unterdrückung der Sitra Achra (anderen Seite) bewirkt eine enorme G-ttliche Erhellung in allen Welten.
Das G-ttliche Licht, das wir durch die Erfüllung der Gebote auf uns lenken, nennt man Schechina. Wenn wir uns dem Torastudium widmen, dann werden unsere Seelen und die zwei inneren Gewänder der Sprache und der Gedanken vom G-ttlichen Licht aufgenommen. Dadurch kommt es, dass die G-ttliche Gegenwart (Schechina) auf unseren G-ttlichen Seelen verweilt (siehe Kapitel 22 „Engel und Masalot“). Um jedoch zu bewirken, dass die Schechina auf unserem Körper und der Nefesch HaBehamit (tierischen Seele) wohnt, müssen wir unsere Körper zur Erfüllung praktischer Gebote verwenden. Dadurch wird die körperliche Kraft, die zur Erfüllung dieser Mitzwa benötigt wird, im G-ttlichen Licht und Willen aufgenommen. Sie verbindet sich mit G-tt in totaler Einheit. Das erklärt, warum die Erfüllung der Gebote Vorrang vor dem Torastudium hat, wenn das Gebot nicht durch jemand anderen erfüllt werden kann.
EIN SCHLUSSWORT
Jemand kann fleißig und gewissenhaft sein und es leicht finden, sich lange dem Torastudium zu widmen. Ein Beobachter könnte erstaunt darüber sein, wie sehr sich dieser Gelehrte seinem Studium widmet. Tatsächlich könnte es jedoch sein, dass sein fleißiges Torastudium nicht seine Hingabe zu G-tt wiederspiegelt. Dieser Gelehrte könnte es z.B. für zu schwer finden, Gäste einzuladen. Wahre Awodat HaSchem (Hingabe zu G-tt) ist es jedoch, wenn jemand G-tt auch in den Bereichen dient, zu denen er natürlicherweise nicht geneigt ist. Wenn der Gelehrte dieselbe Hingabe und Freude, die er beim Torastudium erlebt, auch beim Bedienen eines Gastes zeigt, dann würde das bedeuten, dass er die Gebote nur befolgt, weil sie den Willen G-ttes darstellen.
Diesen Punkt kann man am Beispiel der Zeichen eines koscheren Tieres darstellen. Ein Tier ist nur dann koscher, wenn es wiederkäut und gespaltene Hufe hat. In spiritueller Hinsicht bedeutet das, dass der G-ttesdienst nur „koscher“ ist, wenn man soviel Energie auf die Gebote verwendet, die für uns eine Herausforderung darstellen, wie für jene, die uns leicht fallen. Zudem kann dies nicht nur manchmal der Fall sein, sondern sollte wie das Wiederkäuen sein, d.h. dass man dauernd die Gebote erfüllt, da sie den Willen G-ttes darstellen. Dies stellt Selbstverleugnung dar.
In seinem Werk Tanja beschreibt Rabbiner Schneur Zalman, dass die Studenten in den alten Zeiten ihr Torastudium 100 mal wiederholten. Daher hatte ein Student, der seine Notizen 100mal überprüft hatte, sein Pflicht getan, aber noch nicht wahre Hingabe gezeigt. Der Student aber, der seine Notizen 101 mal überprüft hatte, der war ein wahrer Diener G-ttes. In Chassidischer Terminologie wird solch ein Dienst die Selbstverleugnung gegenüber dem Baal HaRatzon genannt, d.h. sich dem Autor des Willens und nicht den Details des Willens zu unterwerfen. Rabbiner Schneur Zalman hat diesen Punkt einmal so zusammengefasst: Wenn G-tt den Juden befohlen hätte, den ganzen Tag lang Holz zu hacken, dann wären wir ein Volk der Holzhacker geworden. Selbst wenn Holzhacken keinen materiellen oder geistigen Zweck hätte, würden wir trotzdem Holz hacken, da das, was uns befohlen wurde, nicht wichtig ist, sondern nur die Tatsache, dass G-tt uns dies befohlen hat.
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