Als Rachel auf der groben Strohpritsche lag, die nun ihr Bett war, dachte sie an ihr Leben vor Akiwa zurück. Sie war fast eine Prinzessin gewesen, die geliebte Tochter des Reichen Ben Kalba Sawua. Es hatte ihr an nichts gefehlt, weder an schönen Kleidern noch an feinsten Delikatessen. Aber sie würde ihr Leben nicht einmal für den wertvollsten Edelstein der Welt hergeben. Denn sie hatte andere Ziele: Ihr Mann würde eines Tages ein großer Torahgelehrter sein. Es war ihr gleichgültig, dass ihr Vater sie aus dem Haus gejagt hatte oder dass die Leute sie auslachten und über sie die Nase rümpften. Sie zweifelte nicht daran, dass Akiwa eines Tages ein großer Mann in Israel sein würde.
Auf einmal klopfte es an die Tür. Akiwa öffnete und sah einen zerlumpten Mann auf der Schwelle stehen. „Bitte, habt Mitleid. Meine Frau hat eben ein Kind geboren, und ich habe kein Bett für sie und das Kind.“ Rachel sprang auf die Füße und schaute sich hilflos um. Was konnte sie ihm geben? Der Mann sah ihre Verwirrung und sagte: „Ein wenig Stroh würde uns schon sehr helfen.“ Also trug sie einen großen Haufen weiches Stroh zusammen und gab ihn dem dankbaren Mann.
„Wie du siehst, Rachel“, flüsterte ihr Gatte, „sind sie noch ärmer als wir. Aber eines Tages kaufe ich dir eine goldene Tiara mit eingravierten Szenen aus Jerusalem, so wie deine Freundinnen sie tragen.“ Sie lächelte ihn an, glücklich über seine liebevollen Gedanken.
Die Tage vergingen, und Rachel gewöhnte sich an ihr neues Leben. Es war hart, aber sie dachte nie lange an die Gegenwart, sondern wartete darauf, dass ihr Traum von der Zukunft in Erfüllung ging. Akiwa wusste, dass viel Arbeit vor ihm lag. Er war vierzig Jahre alt und begann erst mit seiner Ausbildung – zuerst mit dem hebräischen Alphabet. Konnte er die Höhen erreichen, die seine Frau sich vorstellte? Sein Gedankengang wurde von einem erstaunlichen Anblick unterbrochen. Ein Stück seitlich der Straße lag ein riesiger Felsen mit einem großen, durch die Mitte gebohrten Loch. Er betrachtete es und fragte sich, welches Werkzeug das Loch wohl gebohrt hatte und zu welchem Zweck. Da sah er einen Wassertropfen in das Loch fallen, und ihm folgten immer neue Tropfen. Jetzt wurde ihm klar, dass die weichen, reinen Tropfen das Loch in den harten Felsen gebohrt hatten. Er war über die Antwort auf seine unausgesprochene Frage gestolpert! Wenn Wasser ein Loch in harten Fels bohren konnte, dann konnten die heiligen Worte der Torah gewiss in sein Herz dringen, auch im Alter von vierzig Jahren.
Die Tugenden, die Rachel an ihrem Mann, einem Schäfer, beobachtet hatte, reiften, und sein Studium machte Fortschritte. Schließlich stellten sich die ersten Schüler bei ihm ein. Allmählich wurde er als Lehrer der Torah und als Gelehrter berühmt. Rachel hatte ihn ermutigt, fortzugehen und weiter zu studieren. Es war kaum zu glauben, dass 24 lange Jahre vergangen waren. Akiwa, der Schäfer, war jetzt Rabbi Akiwa, der Lehrer mit 24 000 Schülern, der Größte seiner Generation. Endlich war es Zeit für seine triumphale Rückkehr nach Hause und zu seiner Frau.
Eine riesige Menschenmenge drängte sich um Rabbi Akiwa und seine Schüler. Plötzlich löste sich eine Frau aus der Menge, griff nach dem Saum seines Mantels und küsste ihn. Die Schüler umringten sie und wollten sie wegjagen, aber ihr Lehrer ermahnte sie: „Sie ist meine Frau! Was mein ist und was euer ist, das gehört auch ihr!“
Unter denen, die den Zadik begrüßten, befand sich auch Ben Kalba Sawua, Rachels Vater. Viele Jahre lang hatte ihn sein schlechtes Gewissen geplagt, nachdem er seine Tochter aus dem Haus geworfen hatte. Jetzt bot ihm die Ankunft des Zadiks dieser Generation die Gelegenheit zu erfahren, wie er sein schreckliches Unrecht wieder gutmachen konnte. Rabbi Akiwa ließ den alten Mann zu sich kommen und hörte ihm zu. Er wusste zunächst nicht, dass er sein Schwiegervater war, aber im Laufe der Geschichte merkte er es.
„Wenn du gewusst hättest, dass der arme, unwissende Schäfer eines Tages ein großer Gelehrter sein würde, hättest du dann anderes gehandelt?“, fragte Rabbi Akiwa.
„Ich versichere Euch, wenn ich geglaubt hätte, dass er auch nur ein Gesetz der Torah begreifen würde, hätte ich der Heirat zugestimmt!“
„Dann sollst du wissen, dass ich dieser Schäfer bin und meinen Erfolg allein deiner Tochter verdanke.“
Rabbi Akiwa erlöste Ben Kalba Sawua von dem Gelübde, das er vor vielen Jahren abgelegt hatte. Der glückliche alte Mann schenkte dem Paar die Hälfte seines großen Vermögens. Ihr Traum hatte sich erfüllt, und Rachel und Akiwa spürten, wie der Schmerz über die lange Trennung sich legte und der Freude über ihre Wiedervereinigung wich. Rabbi Akiwa hatte nicht vergessen, was er vor vielen Jahren versprochen hatte. Er war nun ein großer Gelehrter, und Rachel trug nicht nur die Krone der Torah, sondern auch eine goldene Krone Jerusa.
ב"ה
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