Zwei Brüder, Reb Susia und Reb Elimelech, waren sehr fromme und gelehrte Männer, die zu den angesehensten Chassidim von Rabbi Dow Ber, dem Magid von Mesritsch und Nachfolger des Baal Schem Tow, gehörten. Mit der Zeit verloren sie den Kontakt zu einem dritten Bruder, der kein Chassid war. Auf ihren vielen Reisen erkundigten sich die beiden nach ihrem Bruder und versuchten, ihn zu finden. Sie wollten wissen, wie er lebte. War er religiös wie sie, oder hatte er, G-tt verhüte es, die Lehre der Torah aufgegeben? Und selbst wenn er religiös war – hielt er sich allein an den Buchstaben des Gesetzes statt an seinen Geist?

In jeder Stadt und in jedem Dorf, das sie besuchten, um die Lehre ihres Meisters zu verbreiten, erkundigten sie sich, ob jemand ihren Bruder kannte. Aber niemand konnte ihnen etwas über ihn sagen. Trotzdem setzten sie ihre Bemühungen fort. Eines Tages erfuhren sie, wo ihr Bruder lebte. Reb Susia und Reb Elimelech waren überglücklich. Aber sie hatten auch Bedenken – denn was würde die Wiedervereinigung nach so vielen Jahren bewirken?

Etwas zaghaft reisten sie in das kleine Dorf, wo ihr Bruder Gastwirt war. Sie betraten das Lokal und beobachteten ihn bei der Arbeit. Er war den ganzen Tag damit beschäftigt, Gäste zu begrüßen, Zimmer vorzubereiten und Essen zu kochen. Er lief von einem zum anderen, erledigte eine Pflicht nach der anderen und blieb dabei freundlich zu jedem Gast, arm oder reich. Sein langer Bart, die Zizit und der lange schwarze Mantel überzeugten seine Brüder davon, dass er der Torah selbst an diesem abgelegenen Ort treu geblieben war.

Aber eine Frage blieb unbeantwortet. Die beiden Chassidim waren bekannt für ihre Bescheidenheit. Natürlich wussten sie, dass sie etwas Besonderes an sich hatten. Vielleicht dachten sie, sie hätten die bemerkenswerten Gaben, die G-tt ihnen geschenkt hatte, nicht verdient. Doch sie konnten diese kostbaren Gaben nicht leugnen. Aber war an ihrem Bruder und seinem Dienst an G-tt ebenfalls etwas ungewöhnlich?

Am Abend waren die meisten Gäste bereits versorgt, und die Hektik des Tages hatte sich gelegt. Reb Susia und Reb Elimelech schauten zu, wie ihr Bruder die Arbeit seiner Frau überließ und in sein Zimmer ging. Dort betete er und las dann in seinen heiligen Büchern, bis es recht spät war. Das gefiel seinen Brüdern, obwohl sie nicht von Ehrfurcht ergriffen waren; denn es war nicht ungewöhnlich, dass ein Jude den ganzen Tag arbeitete und seine Freizeit mit Gebeten und dem Studium der Torah verbrachte. Doch was ihr Bruder dann tat, war ungewöhnlich. Sie beobachteten, dass er vor dem Schlafengehen die Schema sprach. Mitten im Gebet, ehe er sich zurückzog, schlug er ein altes, abgegriffenes Notizbuch auf.

Lange saß er regungslos da und brütete über einer Seite nach der anderen. „Wie viel kann man auf eine Seite schreiben?“, wunderten sie sich. „Warum liest er so lange?“ Fasziniert beobachteten sie ihn weiter. Die Minuten vergingen, und ihr Bruder begann zu zittern. Tränen liefen ihm die Wangen hinab und tropften auf das Buch vor ihm. Mit leiser, zitternder Stimme las er aus dem Buch vor: „Ich habe diesen Gast heute nicht mit der Ehre bedient, die einem Mitjuden gebührt. Ich habe zu schnell geantwortet, wenn ich gefragt wurde.“ So ging es weiter mit den „Sünden“ ihres Bruders, die er in das Buch geschrieben hatte.

Reb Susia und Reb Elimelech schauten zu, wie ihr Bruder weinte und las, bis die Worte auf der Seite buchstäblich verschwanden. Hatten seine Tränen oder ein Wunder die „Sünden“ fortgespült? Ihr Bruder wusste, dass seine aufrichtige Reue akzeptiert worden war, sobald die Worte auf der Seite verblichen.

Die Brüder dachten an ihre Eltern und fragten sich, welche großen Taten sie vollbracht hatten, um ein so bemerkenswertes Kind zu verdienen.