Kaum hatte die überhastete Flucht aus Ägypten am 15. Nissan 2448 (1312 vZ.) begonnen, geriet das jüdische Volk – Männer, Frauen und Kinder – in eine lebensbedrohende Falle. Vor ihnen das Schilfmeer, das, noch ungespalten, den Weg nach vorne blockierte. Hinter ihnen mordlustige Kompanien der ägyptischen Armee, die Jagd auf die flüchtenden Juden machten. Es bildeten sich vier Gruppen im Volk mit grundverschiedenen Ansichten, was in dieser von Angst und Chaos geprägten Lage zu tun sei. Eine Gruppe rief aus: „Lasst uns ins Meer springen“ um der Grausamkeit der Ägypter zu entgehen. Eine zweite Gruppe erklärte: „Lasst uns nach Ägypten zurückkehren und wieder als Sklaven arbeiten.“ Die dritte Gruppe gab sich kämpferisch: „Lasst uns gegen die Armee Pharaos Krieg führen“. Die vierte Gruppe beharrte darauf, dass der einzige Weg aus der Gefahr sei, „gegen sie aufzuschreien“ – G-tt um Hilfe anzuflehen.

Moses antwortete ihnen: „Fürchtet euch nicht, steht still und ihr werdet die Errettung G-ttes sehen, die Er an diesem Tag für euch tun wird; denn so wie ihr Ägypten heute seht, werdet ihr es nie wieder sehen, für alle Zeit. G-tt wird für euch Krieg führen und ihr sollt still bleiben.“

In diesen zwei Sätzen gab Moses jeder Gruppe eine Antwort. Denen, die sich ins Meer werfen wollten, sagte er: „Steht still und ihr werdet die Errettung G-ttes sehen“. Jenen, die nach Ägypten zurückkehren wollten, verkündete er: „Denn so wie ihr Ägypten heute seht, werdet ihr es nie wieder sehen, für alle Zeit“. Die kämpfen wollten, erhielten zur Antwort: „ G-tt wird für euch Krieg führen“. Und der vierten Gruppe, die zu G-tt aufschrie, sagte Moses: „Ihr sollt still bleiben“.

Und welcher Weg sollte stattdessen gewählt werden? „Sprich zu den Kindern Israels“, kam die Aufforderung G-ttes an Moses, „dass sie vorwärts schreiten.“

Keiner der vier Vorschläge wurde zur Gänze akzeptiert, was damit zu erklären ist, dass sie von Menschen vorgebracht wurden, die noch nicht gänzlich das Land Ägypten verlassen hatten. Mizraim, der hebräische Begriff für das Land Ägypten, beschreibt nämlich auch all die seelischen, intellektuellen und emotionellen Beschränkungen (Mezarim), in denen der Mensch gefangen ist.

Vollkommene spirituelle Befreiung von Mizraim setzt die Spaltung des Schilfmeeres voraus, die „Verwandlung des Meeres in trockenes Land“. Die Schöpfung – symbolisiert vom „Meer“, das alles darunter liegende verdeckt – wird beiseite gerückt und das „trockene Land“, die g-ttliche Kraft, kommt zum Vorschein. Wenn der Mensch die allem Sein innewohnende G-ttlichkeit wahrnimmt, ist er endgültig aus Mizraim ausgezogen.

Der Sprung ins Meer

Die Gruppen können als vier Stufen des G-ttesdienstes interpretiert werden, die in aufsteigender Ordnung genannt werden.

Die erste Meinung – der Sprung ins Meer – ist Resultat einer Weltanschauung, in der ein Sieg des Bösen, von Pharao symbolisiert, möglich ist. Der Mensch beschließt deshalb, sich von einer solch bedrohlichen Welt und den Mitmenschen abzuwenden und ins Meer einzutauchen, ein „Meer der Umkehr“ (Tschuwa) um sich auf diese Weise mit G-tt zu verbinden. Konfrontiert man diesen Menschen mit der Frage, was mit seinen Gefährten geschehen wird, so weist er jede Verantwortung von sich. Soll sich doch ein anderer mit diesem Problem auseinandersetzen, sagt er; und noch mehr: Das ist G-ttes Angelegenheit, bin ich denn verpflichtet, die Welt zu retten? Seine vorrangige Sorge gilt dem eigenen Überleben. Er stürzt sich deshalb ins „Meer“ und möchte nichts mehr mit der Welt zu tun haben.

Dieser Mensch wird volkstümlich als „Zaddik im Pelz“ bezeichnet, der vermeintlich Tugendhafte, dem im eigenen Pelzmantel behaglich warm ist. Was die bittere Kälte betrifft, die andere leiden – nu, was kann er schon tun? „Ist es denn möglich, die ganze Welt zu wärmen?“ Der Versuch aber, einem oder zwei Mitmenschen zu helfen – das ist keine Aufgabe, die ihm angemessen erscheint. So bleibt er selbstgefällig in seinen „Pelzmantel“ gekleidet und lässt die anderen frieren.

Rückkehr nach Ägypten

Eine höhere Bindung an G-tt ist die „Rückkehr nach Ägypten“. Im Bewusstsein, dass G-tt die „Welt erschuf, damit sie bewohnt werde“, stellt sich der Mensch den Aufgaben dieser Welt und unterwirft sich demütig der himmlischen Anweisung, Mizwot im Hier und Jetzt zu erfüllen. Im Inneren aber ist er überzeugt, dass er damit nichts erreicht, verändert und bewirkt, weder sich selbst noch seine Umgebung betreffend. Er hält die Machtlosigkeit gegenüber Mizraim – der materiellen Welt – für unüberwindbar. Verpflichtet, dem jüdischen Gesetz zu gehorchen, erfüllt er es mit einem Gefühl der Mühsal und Belastung. Die Sonne geht auf und er liest das Schma-Gebet zum erstmöglichen Zeitpunkt, wie es die Frömmsten tun; er sagt das Mincha-Gebet zur richtigen Zeit; bei den Mahlzeiten spricht er die erforderlichen Gebete vor und nach dem Essen. Sollte er jemanden treffen, der materiellen oder spirituellen Beistand braucht, erfüllt er auch das, weil die Tora befiehlt „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Seine Taten aber sind ohne Initiative, ohne Vitalität und Begeisterung, er empfindet sein Dasein als schicksalsgegebene Last, denn er nimmt an, dass er allen Bemühungen zum Trotz dem Mizraim der physischen Welt versklavt bleiben wird.

Solange man von einem Gefühl der Sinnlosigkeit und der Verzweiflung befallen ist, die Tora und ihre Gebote ausschließlich als schwere Bürde betrachtet – „Schwer zu sein ein Jid“ – befindet man sich in spiritueller Versklavung im „Lande Ägypten“. Sich dem himmlischen Joch in der Art eines treuen Dieners zu unterwerfen wie diese Person, ist tatsächlich die richtige Art, den Dienst an G-tt zu beginnen. Das ist aber nur der Anfang des Weges. Wenn jemand die Tora G-ttes lernt und Seine Mizwot erfüllt, sollte das Bewusstsein, dass man damit eine Verbindung mit Ihm eingeht, den Menschen so stark beeinflussen, dass er die Anweisungen G-ttes nicht nur gehorsam, sondern voller Freude und Enthusiasmus erfüllt.

Gegen die Achse des Bösen

Eine noch höhere Stufe ist es, „Krieg gegen sie zu führen“. Trotz der Bedrohung, die von Pharao und seiner Armee ausgeht, ergibt sich dieser Mensch nicht – er fordert Mizraim zum Kampf heraus. Diese Einstellung steht viel höher als die „Rückkehr nach Ägypten“, weil sie nicht von Verzweifl ung gekennzeichnet ist. Im Gegenteil, er fühlt die enorme Macht der Heiligkeit, die alle Kräfte der Dunkelheit zu besiegen vermag und handelt deshalb mit großem Eifer und Initiative.

Doch jede Handlung braucht den passenden Zeitpunkt. Wenn der Allmächtige den Auszug aus Ägypten befohlen hat, damit man die Tora am Berg Sinai erhalte, dann darf es keinerlei Verzögerung, Ablenkung und Vergeudung von wertvoller Zeit und Energie geben. Jetzt besteht die Aufgabe darin, die Welt mit dem Licht der Tora zu erhellen, und es ist unangebracht – selbst um des Kampfes gegen Mizraim willen –, dieser Verpflichtung auszuweichen. Außerdem haben in einem Krieg auch die Sieger Verwundete und Verluste zu beklagen.

Man sollte sehr vorsichtig sein, wenn man G-tt dienen will, indem man „Krieg führt“ gegen die Mächte des Bösen. Wenn der Mensch keine ausdrückliche Aufforderung dazu von G-tt oder „Moses, seinem Diener“ erhalten hat und nach eigenem Ermessen handelt, kann er leicht einer Täuschung aufsitzen. Es könnte sein, dass sein brennender Eifer nicht dem Bereich der Heiligkeit entstammt, sondern seinem eigenen Ego.

Im Gebet aufschreien

Die vierte und höchste Stufe ist „Lasst uns gegen sie aufschreien“. Dieser Mensch sieht das Gebet als Lösung und hofft auf G-ttes Hilfe.

Obwohl das eine Haltung der Demut und Selbstverneinung ist, ist sie nicht immer von G-tt gewollt. Der Jude ist mit G-tt verbunden, der den Gesetzen der Natur nicht unterliegt und in sich Gegensätze beinhalten und aufl ösen kann. Ähnlich werden auch vom Menschen zwei grundverschiedene Arten der spirituellen Einstellung gefordert. Einerseits das ständige Bewusstsein, dass Er es ist, der alles veranlasst und lenkt. Andererseits das initiative Bestreben, G-tt mit allen zur Verfügung stehenden Fähigkeiten zu dienen.

Glaube und Vertrauen

In diesem Zusammenhang sollte man auch die Begriffe Glaube (Emuna) und Vertrauen (Bitachon) klären, die oft verwechselt werden. „Glaube“ in seiner jüdischen Definition leitet sich von G-tt ab, der absolut und uneingeschränkt gut ist; alles, was geschieht, ist daher ebenfalls gut. Sogar wenn Dinge als das genaue Gegenteil von Gut erscheinen, so wurzeln sie dennoch in der dem Menschen unzugänglichen Güte und Weisheit G-ttes.

„Vertrauen“ bezeichnet die Überzeugung, dass die Lage auch in einer für den Menschen erkennbaren Weise gut sein wird. Man glaubt nicht bloß daran, dass Er auf eine nur Ihm verständliche Weise handelt, sondern vertraut darauf, dass Er die Dinge so lenken wird, dass auch wir Menschen sie als „gut“ erkennen können. Der Mensch vertraut daher auch dann auf G-tt, wenn die Situation bedrückend wirkt und es keinen Hoffnungsschimmer gibt, wenn sogar der sprichwörtliche „Strohhalm“ fehlt, der vor dem Ertrinken retten soll.

Wer solches Vertrauen besitzt, wird selbst in schwersten Situationen nicht mutlos oder verbittert sein. Er wird alles in seiner Macht Stehende unternehmen, um im Einklang mit der Tora und dem menschlichen Verstand die Lage zu meistern, hat aber gleichzeitig nicht den geringsten Zweifel daran, dass G-tt ihm helfen wird.

Dasselbe Paradox gilt für die Aufgaben und Herausforderungen, die sich dem Menschen stellen: Einerseits das Bewusstsein, dass „alles in der Hand des Himmels liegt“, gleichzeitig aber der ernsthafte Versuch, die Aufgaben mit eigener Kraft zu lösen. Vollkommene Abhängigkeit von G-tt und intensiver persönlicher Einsatz kommen von der g-ttlichen Seele (Nefesch ha-Elokit), einem Teil des Menschen, der mit G-ttlichkeit direkt verbunden ist. Da G-tt Widersprüche in Sich vereint, kann auch der Mensch kraft seiner Nefesch Elokit auf G-ttes Hilfe vertrauen und zugleich das Leben aktiv bestimmen.

Vorwärts schreiten

„Dass sie vorwärts schreiten“, lautete schlussendlich die Aufforderung G-ttes an die Kinder Israels – in allen Generationen, um sie vor den Irrwegen der vier Gruppen am Rande des Schilfmeeres zu bewahren. Nicht die Isolation von der Welt, oder die Mutlosigkeit, die nicht erkennt, dass jedes Wort der Tora und jede Mizwa das Gefüge der Welt beeinflusst und die Herrschaft von Mizraim mindert. Nicht die vordringlichen Aufgaben zu ignorieren und mit der Welt in Konflikt zu geraten, und letztlich, nicht mit untätigen Händen dazustehen und G-tt alles zu überlassen. Der Mensch, am ägyptischen Strand vor 3000 Jahren ebenso wie in Europa des 21. Jahrhunderts, ist vielmehr vor die Aufgabe gestellt, die Welt von innen heraus zu erleuchten, und sich selbst und seine Umwelt näher an die Tora heranzubringen, auf dem Weg von „dass sie vorwärts schreiten“ und Mizraim für immer hinter sich lassen.