Schawuot, der Tag an dem die Tora durch G-tt gegeben wurde, wird auch als Tag bezeichnet, an dem Israel die 10 Gebote erhielt. Dies scheint ein natürliches Miteinander zweier Konzepte – das Geben und das Empfangen sind zwei Seiten der gleichen Aktion und anscheinend austauschbare Beschreibungen des Ereignisses.

Trotzdem sind sie nicht identisch. Beide haben ihre eigene, besondere Bedeutung. Wie die Kabbala es beschreibt, ist das Geben eine Bewegung von oben, die sich nach unten richtet, während das Empfangen eine Bewegung von unten ist, die sich nach oben richtet. Und in der Dimension der Zeit ist das Geben der Tora eine einzelne Handlung, wohingegen das Erhalten der Tora ein vielfältiger und fortwährender Prozess in der Geschichte ist.

Bevor wir diesen Punkt vertiefen, mag es hilfreich sein zu verdeutlichen, was das Wort „Tora“ bedeutet. Tora als „Gesetz“ zu übersetzen, verfehlt den Kern, auch wenn die Bibel als Buch angesehen wird, welches Gesetze und moralische Anweisungen für das Leben enthält. Demgegenüber ist der Aspekt der Anweisung – der Lehre – sicherlich grundlegend für die Tora; ohne diesen Aspekt wäre die Tora nur ein monumentales Werk der Literatur.

Mehr noch, Tora, die kein lebendiger Rahmen für das Handeln ist, ist nicht länger Tora. Darum ist das Geben und das Erhalten der Tora mehr, als nur die Übermittlung einer bestimmten Ansammlung von Informationen. Es ist die Übermittlung einer Botschaft, welche einen tiefgründigen Wechsel im Denken und Verhalten derjenigen bewirkt, die sie erhalten. Es ist auch eindeutig, dass die Tora eine Brücke zwischen dem G-ttlichen Wesen und dem Menschen bildet.

Die tatsächliche Gabe der Tora am Berg Sinai war ein absolut dramatisches und Ehrfurcht gebietendes Ereignis, mit himmlischen Stimmen und Trompeten, Blitz und Donner. Es mag manche ein wenig verwundern, wie man darum so einen Wirbel machen kann, in Anbetracht dessen, dass die 10 Gebote nicht mehr, als die grundlegenden Regeln für die Führung einer jeden Gesellschaft sind. In Teilen kann man sie bereits in den älteren Gesetzeskodizes von Babylon und Ägypten, von Indien und China finden.

Folglich muss man zugestehen, dass das ganze Gewicht der 10 Gebote nicht nur ihr Inhalt ist, sondern der besondere Weg, in dem sie gegeben wurden. „Du sollst nicht töten“, in den 10 Geboten, ist kein vorherrschender Grundsatz eines örtlichen Oberhauptes um eine Fehde wegen „Blutrache“ zu vermeiden. Es ist das Gebot eines Allmächtigen G-ttes und dies ist es, was ihm die Kraft und die Bedeutung gibt. Eines der Gebote der Tora zu übertreten bedeutet hauptsächlich sich G-tt zu widersetzen und erst danach bedeutet es ein Vergehen gegenüber der Gesellschaft.

Dies ist nur ein äußerlicher, formalistischer Aspekt der Gabe der Tora. Bedeutender ist, dass es eine Handlung von oben nach unten ist, die Überwindung des unendlichen Abstandes zwischen G-tt und der Welt. Es gibt keinen Weg, den ein Mensch hierfür beschreiten könnte. Man kann nur verzweifeln, „Was hat Er mit uns zu tun?“

Dies ist kein moderner Gedanke; er wurde in der Bibel oft genug wiederholt und ist möglicherweise eine grundlegende Erfahrung in allen Religionen. Tatsächlich ist die innere Botschaft der 10 Gebote eine Antwort auf dieses Gefühl der menschlichen Bedeutungslosigkeit. Es ist der zentrale Aspekt der Begegnung am Berg Sinai, wie es geschrieben steht: „Siehe, der Ew-ge unser G-tt hat uns Seine Herrlichkeit und Seine Größe schauen lassen, und Seine Stimme haben wir mitten aus dem Feuer gehört: heute haben wir es gesehen, wie G-tt mit dem Menschen redet und der am Leben bleibt“ (Dwarim 5:21). Die Bedeutung dieser Begegnung wird in den Worten nicht erwähnt, sondern dass G-tt vor dem Menschen erschien und ihm sagte, was zu tun ist, dass G-tt eine Art des Kontaktes mit dem Menschen errichtete. Und dies ist die Bedeutung der ganzen Tora; alles andere ist Kommentar.

Konsequenter Weise ist das Geben der Tora ein einziges historisches Ereignis, in welchem das G-ttliche der entscheidende Faktor ist. Der Erhalt der Tora ist jedoch ein sich in der Zeit fortsetzender Prozess, in dem der Mensch der entscheidende Faktor ist. Das Paradoxon löst sich auf, wenn sich beide Bewegungen treffen.

Dies wurde durch unsere Weisen zum Ausdruck gebracht, die über die Passage in Jesaja, “Ihr seid meine Zeugen, sagt der H-rr, und Ich bin G-tt,” sagten, dass man daraus ableiten könne, dass wenn ihr nicht meine Zeugen seid, Ich nicht G-tt bin. Mit anderen Worten, Israel hat bereit zu sein, die G-ttliche Gegenwart zu bezeugen, und aus diesem Grund konnte die Begegnung, welche die Offenbarung der Tora darstellt, stattfinden. Und wiederum, es ist nicht der Inhalt, der betrachtet wird. Es ist, dass jemand bereit ist zu empfangen, bevor er weiß was es ist. Dies ist der entscheidende Faktor.

Der Erhalt selbst ist darum nicht nur eine Frage des passiven Hörens der Botschaft der Tora; es ist ein Akt der Aufnahme der Schönheit und der Prinzipien, und das Ausführen der Gebote an allen Tagen des eigenen Lebens. Am Anfang war ein bestimmter aufnahmefähiger Zustand des Geistes – “Wir werden tun und wir werden hören.” Auf der einen Seite wurde die innere Bedeutung dieser Formulierung der Bereitschaft erst später offenkundig, wie es Moses mit seinen vierzig Jahre später gesprochenen Worten sagte, als er das Volk verließ, “Aber der Ew-ge hat euch kein Herz gegeben zu erkennen, Augen zu sehen und Ohren zu hören, bis auf den heutigen Tag” (Dwarim 29:3). Tatsächlich konnte erst viele Generationen später gesagt werden, dass das Volk Israel ein Herz entwickelt hatte, welches fähig war die Tora zu erkennen.

Diese Idee ist nicht nur ein metaphorischer Weg etwas zu sagen; es ist ein in der Bibel regelmäßig wiederkehrendes Thema. Tatsächlich mag man sagen, dass die Bibel als Ganzes ein detaillierter Bericht der Konflikte und Aussöhnungen in dem Prozess der Gabe der Tora ist.

Jede wahrhaft revolutionäre Lehre benötigt Zeit um verstanden zu werden, und es gibt eine Vielzahl von Zwischenschritten. In der Geschichte von Israel mag man annehmen, dass das Volk Israel als Ganzes die Tora nur während der Zeit des 2. Tempels als obligatorische Art zu leben akzeptiert hatte. Von dieser Zeit an, bis zur letzten Generation, hat es aber zwischen den Juden und der Tora keine ernsthafte Trennung gegeben. Sie haben eine beständige Einheit gebildet.

Mehr als tausend Jahre sind vergangen, zwischen der Gabe der Tora und des ein oder anderen vollkommenen Erhalts der Tora. Natürlich ist es nicht eine Frage der spirituellen und intellektuellen Fähigkeiten der einen oder anderen Generation. So lang der Mensch einen freien Willen besitzt, stellt sich das Problem des Erhaltens der Tora für jeden Einzelnen in jeder Generation neu.

Der Prozess des Erhaltens der Tora hat sich so fortgesetzt – von dem Zwischenfall mit dem “Goldenen Kalb” bis zum heutigen Tag. Es ist ein Prozess den Juden in der echten Aufnahme dessen zu unterweisen, was ihm angeboten wird. Und, wie wir gesehen haben, kann es kein einfacher Lernprozess sein. Er ist immer gehemmt, nicht nur durch die unterschiedlichen Arten der Ablehnung, sondern auch durch die vielen Formen der unangemessenen und voreiligen Akzeptanz. Nach tausenden von Jahren und zahllosen guten Absichten und unaufhörlichen Auseinandersetzungen von Generationen wahrhaftiger Juden, können wir uns nur einer Sache sicher sein: Das die Tora, die am Berg Sinai gegeben wurde, fortwährend durch Israel erhalten wird.