Lange vor der Zerstörung Jerusalems durch die römischen Unterdrücker hatte Rabbi Jochanan ben Sakai das tragische Schicksal der Stadt vorausgesagt. Er hielt sich aus der Politik heraus; doch als er sah, dass der Kampf gegen Rom vergeblich und das Schicksal der Stadt besiegelt war, beschloss er, eine Zufluchtsstätte für das Judentum zu suchen.
Eines Tages besuchte er seinen Neffen, Abba Sikra, den Anführer der Zeloten, die Verhandlungen mit den Römern strikt ablehnten. „Wie lange willst du deine Leute noch in den Straßen verhungern lassen?“, fragte er ihn.
„Das liegt nicht mehr in meinen Händen“, antwortete Abba Sikra betrübt.
„Willst du mir helfen, die Stadt zu verlassen, um mit dem römischen General Vespasian zu reden?“, fragte Rabbi Jochanan.
Sigra versprach, ihm zu helfen. Er riet Jochanan, eine Krankheit vorzutäuschen. Nach seinem „Tod“ werde man ihn aus der Stadt bringen, um ihn zu „beerdigen“. Dann könne er sich zum römischen General schleichen. So geschah es. Doch als Rabbi Jochanans Schüler seinen Sarg zum Stadttor brachten, hielten die Zeloten sie auf. „Lasst uns Schwerter in den Sarg stoßen, um sicher zu sein, dass der Rabbi wirklich tot ist“, verlangten sie.
Abba Sikra griff ein. „Es schickt sich nicht, mit einem großen und heiligen Weisen wie Rabbi Jochanan so umzugehen!“
Die Zeloten zögerten, dann ließen sie die Gruppe gehen. So gelangte Rabbi Jochanan ins Lager der Römer.
„Friede sei mit dir, König“, begrüßte er Vespasian.
„Du bist des Verrats schuldig, weil du mich König nennst“, erwiderte der General.
„Aber ich weiß, dass Jerusalem nur durch die Hand eines Königs fallen kann. Du wirst gewiss bald der Cäsar sein.“
Während sie sich unterhielten, kam ein Bote und unterrichtete Vespasian davon, dass der Kaiser gestorben sei und dass man ihn zum neuen Herrscher des römischen Reiches gewählt habe. Man erzählt, Vespasian habe beim Empfang dieser Nachricht nur einen Stiefel getragen. Als er versuchte, diesen auszuziehen, gelang es ihm nicht. Ebenso sei es ihm nicht gelungen, den anderen Stiefel anzuziehen. Rabbi Jochanan erklärte: „Gute Zeiten machen die Knochen fett“ (Sprüche 18:5). Sobald er jemanden ansehen werde, der ihm missfalle, würden seine Füße wieder normal.
Vespasian war von Rabbi Jochanans Weisheit so beeindruckt, dass er ihm ein Angebot machte: „Bitte mich um alles, was dein Herz begehrt, und ich werde deine Wünsche erfüllen.“
Rabbi Jochanan bat zuerst darum, dass die Stadt Jawne ein Zufluchtsort sein möge und dass dort eine Akademie gegründet werden solle. Zudem solle das Leben der Nachkommen von Rabbi Gamliel verschont werden, damit das Königshaus Davids nicht aussterbe (die Römer töteten üblicherweise die ganze Königsfamilie). Drittens bat er um einen Arzt, um Rabbi Zadok zu heilen, einen großen Weisen, der seit vierzig Jahren fastete, um Jerusalem vor der Zerstörung zu retten.
Vespasian erfüllte die scheinbar bescheidenen Bitten, denn er erkannte nicht, welche weit reichenden Folgen sie für den Fortbestand des jüdischen Volkes hatten. Das neue Torah-Zentrum in Jawne legte den Grundstein für die spirituelle Wiedergeburt der jüdischen Nation, obwohl sie ihre Unabhängigkeit an das mächtige römische Reich verloren hatte. Aber dieses Reich ist längst von der Landkarte verschwunden.

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