Frage?

Die meisten Bräuche und Traditionen des Judentums sind an keiner Stelle in der Bibel vermerkt. Wieso können wir nicht einfach das befolgen, was dort geschrieben steht? Ist es keine Ketzerei auf G-ttes Wort etwas hinzuzufügen?

Antwort!

Sie können in der Tat fortfahren und versuchen, nach literarischem Verständnis der fünf Bücher Moses zu handeln, doch riskiert das, ihr Leben ungemütlicher zu machen. Einerseits würden viele Leute zu Tode gesteinigt, weil sie den Schabbat entweiht, "im Zimmer geirrt" haben usw. und würden eine Unmenge an Zähnen und Augen vermissen. Lassen Sie mich wissen, wo Sie all die Schafe für Ihre versehentlichen Vergehen zu opfern gedenken und finden Sie möglichst schnell einen Kohen und einen Levi, die sich um all die obligatorischen Abgaben kümmern, zu denen Sie verpflichtet sind. Dann kommen die Gesetze der Unreinheit, die, falls Sie im Sinn haben, "das was dort geschrieben steht" auszuführen, riskiert ihr Eheleben ziemlich kompliziert zu werden. Und am Schabbat werden Sie den ganzen Tag ohne Licht und Heizung zu Hause sitzen.

Doch können Sie auch die traditionelle Auslegung der Tora befolgen, die erklärt, dass "Auge um Auge" finanzielle Abfindung bedeutet und die Vollstreckung der Todesstrafe nahezu unmöglich macht – und viel humaner, falls sie trotzdem durchgeführt werden muss. Das Opfern von Schafen kann nur in Zeiten durchgeführt werden, in denen der Heilige Tempel steht. In der Zwischenzeit sind andere Mittel für die Erlangung der Vergebung anwendbar. Die Gesetze der rituellen Unreinheit, wie sie heutzutage angewendet werden, sind in der Tat ausführbar und können Ihre Ehe sogar um einiges verbessern. Und Sie können in einem warmen Haus sitzen oder am Schabbat im Park spazieren gehen - wohl wissend, dass das dem entspricht, was der Text wirklich meint und schon immer sagen wollte. Oder denken Sie wirklich, dass G-tt von Ihnen verlangen würde, ein unmögliches Leben zu führen?

Vielleicht ist das der Grund, warum die Tora selbst uns angewiesen hat, jeden schwierigen Fall, der aufkommt, den weisen Tora-Gelehrten unserer Zeit vorzulegen und von den Worten, die sie uns sagen weder nach links noch nach rechts zu weichen."1 Wir lesen nicht einfach nur das Buch und entscheiden selbst, was es wohl meint, sondern wir folgen den festgelegten Interpretationsregeln, die uns ebenfalls über eine Jahrtausend alte Tradition von Generation zu Generation genau übermittelt wurden. Wenn die Interpretationen erweitert werden müssen, gibt G-tt selbst den Weisen, die sich Tag und Nacht dafür aufopfern Seine Tora zu verstehen, die Befugnis, selbst, ihrer Tora-Kenntnis entsprechend, auszutüfteln, was in jenem Fall in der Praxis wohl getan werden soll. So wächst diese ganze Struktur auf organische Weise, getreu ihren Wurzeln und ihrer ursprünglichen Bedeutung. Und auf diese Weise gibt es eine einzige Tora, die für das ganze Volk gültig ist.

Text und Kontext

Doch dann haben Sie wahrscheinlich eine größere Frage: Wer sagt, dass wir in der Tat richtig interpretieren? Und überhaupt, wie kann ein menschliches Wesen, egal wie weise, das Recht haben, G-ttes Tora zu interpretieren?

Nun, das wäre ein Problem, wenn Sie die Interpretation von John Smith zu den Fünf Büchern Moses akzeptieren würden. Das ist die Version, nach der Moses eines schönen Tages auf den Berg hinaufstieg, dort fünf Bücher fand (fehlt nur noch dass er behaupten würde, dass dort auch die nichtjüdische Vers-Nummerierung bereits enthalten war), diese bei seiner Rückkehr wieder mit sich brachte und dem Volk sagte: "Guckt mal her was ich gefunden habe! Wir sollten das, was in diesen Büchern steht besser einhalten, sonst ..."

In anderen Worten, wenn wir glauben würden, dass es für diesen Text keinen anderen Zusammenhang gibt, als dass G-tt gesagt hat, das zu tun, was dort geschrieben steht, dann würden wir mit dem Text nicht klar kommen. Doch in Wirklichkeit gibt es keinen Text ohne Kontext. Zusammenhang ist für den Text wie Wasser für den Fisch, Straßen fürs Auto, und das Internet für die Webbrowser: Der Text bleibt ein Text selbst ohne Kontext, doch ist er völlig unbedeutend und sachfremd. Zusammenhang ist der Atem des Lebens. Denn der Kontext lehrt uns, was der Zweck des Textes ist, wie er gelesen werden soll und was wir mit ihm anfangen können.

Politische Parodien wie Gullivers Reisen und die Tierfarm sind gute Beispiele von Büchern, die bei Kenntnis ihres Zusammenhangs eine ganz neue Bedeutung erhalten. Ein für Familienmitglieder geschriebenes, persönliches Tagebuch oder eine Biographie könnte auch ein Beispiel sein. Der Insider liest eine ganz andere Geschichte als der Outsider, der nur einen kurzen Blick des Ganzen erhält.

Schauen wir einmal auf den Kontext der Fünf Bücher Moses. Zu unserem Glück nennt Moses selbst viele Angaben den Text betreffend. Er gibt uns sogar ein paar Hinweise darüber, wie das Buch wohl geschrieben wurde. Am Ende der 40-jährigen Wanderung, fast unmittelbar vor dem Eintritt in das gelobte Land, sagt Moses dem Volk: "Hört mal zu, ich kann nicht mit euch ins Land kommen. Doch G-tt hat mich beauftragt, das alles niederzuschreiben und es euch als Zeugnis zu übergeben, damit ihr alles, was ich euch im Verlauf dieser vierzig Jahre gesagt habe auch einhaltet. Hier ist es. Lernt es wie ein Lied. Lehrt es euren Kindern, so dass sie es ihren Kindern beibringen werden. Denn alles, was ihr bis zum Ende der Tage brauchen werdet, ist dort enthalten." Das ist im Grunde genommen der Inhalt des Buches Deuteronomium, welches in jüdischen Kreisen eigentlich auch als Mischne Tora – "die Wiederholung der Tora" – bekannt ist.

Geschichten aus dem wirklichen Leben

Lassen Sie uns jetzt kurz an die Szene denken, wo unsere Vorfahren eine dieser frisch geschriebenen Rollen von Moses Buch in die Hände bekommen. Sie fangen an, die Geschichte der Schöpfung zu lesen, des Gartens und der Sintflut – alles altbekannte Geschichten, die sie von ihren Großeltern und Urgroßeltern bereits gehört haben. Geschichten, die womöglich bereits von früher her schon in schriftlicher Form vorhanden waren. Sicher, als sie diese Geschichten hörten, gab es viele Ausarbeitungen. Das ist die Weise, in der Schriftrollen damals gelesen wurden: Ein Vers wird gelesen, dann erklärt, ausgeführt und zum ausgedehnteren Panorama entwickelt, - dann weiter gelesen und erklärt. Moses verstand, dass sie mit seiner Tora wahrscheinlich dasselbe tun werden.2

Sie erhalten die Geschichten ihrer Ur-Ur-Urgroßeltern Abraham und Sara. Jemand sagt: "Hey, es fehlt die Geschichte, wie Abraham die Götzenbilder im Haus seines Vaters zertrümmerte!" Jemand anders sagt: "Wie groß soll diese Rolle, die er schreibt, sein? Er schrieb die wichtigsten Punkte und diese Dinge, die wir zu vergessen riskieren. Doch diese Geschichte? Niemand wird diese Geschichte jemals vergessen."

Daher, als sie ihren Kindern diesen Teil der Schriftrolle vorlasen, fügten sie diese Geschichte hinzu. Und selbstverständlich vergaß niemand je diese Geschichten.

Schließlich kamen sie zur Geschichte über sich selbst. Stellen Sie sich das einmal vor: Sie sind hier gezwungen, alles was sie erlebt haben, erneut zu betrachten, doch diesmal aus einer anderen Perspektive, die Art und Weise in der G-tt und Moses diese Ereignisse erfassten. Sie lasen über die Plagen, sie lasen sogar laut (alles Lesen war laut bis in die modernen Zeiten) und fügten ganz aufgeregt ihre eigenen Erinnerungen und Emotionen hinzu, so dass die Geschichte tief im Gedächtnis, im Herzen und in der Seele ihrer Kinder eingebettet war. Oft konnten sie erkennen, wie Moses auf ein fehlendes Detail durch eine Nuance des Textes anspielte oder durch ein scheinbar überzähliges Wort.

Und dann die Gebote und Verbote: Alle Gesetze von Moses, die er der Gemeinde über vierzig Jahre lang lehrte. Die Streitfragen, mit denen sie sich auseinandersetzten, über die die Ältesten sich jahrelang den Kopf zerbrachen. Bis jetzt war es immer so, dass sobald ein Sachverhalt unklar wurde oder seine Anwendung mehrdeutig, gingen sie zu Moses selbst, um das Thema zu klären. Tausende von solchen Fällen wurden auf diese Weise gelöst. Joschua, Eleasar, Itamar, Pinchas, Kaleb und viele andere ältere Weisen haben voraussichtlich die Entscheidungen über diese Fälle aufgezeichnet und so ihre Schüler unterrichtet.

Moses schreibt: "Halte den Schabbat heilig." Er braucht ihnen nicht zu erklären, was Schabbat ist, wann Schabbat anfängt und wie wir ihn beachten sollen. Alle wissen das schon. Sie werden es ihren Kindern lehren, wenn sie ihnen den Text vorlesen. Und sowieso werden alle so aufwachsen, dass sie auch die Gelegenheit dazu haben, die Schabbat-Gesetze jede Woche in die Praxis umzusetzen. "Halte, bzw., beachte den Schabbat", und warum, ist einfach alles, was dazu gesagt werden muss.

Dasselbe gilt für "sie sollen Totafot zwischen deinen Augen sein". Alle wissen, was das ist, sowie sie wissen, was sie auf die Türpfosten ihrer Häuser schreiben und wie sie die Fransen an den Ecken ihrer Kleider knüpfen sollen. Es wird immer Juden geben, die diese Dinge ausführen. Für die nächsten tausend Jahre, - deshalb braucht nicht viel schriftlich festgehalten zu werden. Und wieder sind die Schüler von Moses erstaunt zu sehen, wie ganz geschickt in den Nuancen des Textes selbst auf die Details dieser Mizwot angespielt wird.

Doch sehen Sie sich das einmal an: Wenn von den Gesetzen der Kohanim und des Tempels die Rede ist, werden wir gleich mit einem Meer an Einzelheiten überschwemmt: Wie viele Schafe, in welchem Alter das Schaf jeweils sein muss, wo, wer, wann, wie. Das sind Dinge, die scheinbar missbraucht würden. Die Kohanim könnten eines Tages behaupten, dass ihnen die Entrecotes als Kehuna-Geschenke zustehen und das Rinds- und Schafsopfer vor den Tauben Vorrang haben. Wie soll der Durchschnittsbürger sich vergewissern, dass er hier nicht betrogen wird? Daher ist es sinnvoll, dass Moses Schriftrolle hier ins Detail geht. Dasselbe gilt auch für Mizwot, die speziell mit dem Land verbunden sind, wie die Abgabe des Zehnten, das Schabbatjahr, und das Jubeljahr. Obwohl sie das mit Moses besprochen hatten, gab es für sie noch keine Gelegenheit dazu, diese Gesetze in die Praxis umzusetzen.

Es gibt keinen Zweifel daran, dass diese fünf Bücher extrem faszinierend waren und sehr verehrt wurden, sobald sie im Handel erhältlich waren. Stellen Sie sich jetzt vor, dass mitten in dieser Begeisterung so ein neunmalkluger, belesener Typ über den Berg dahergelaufen kommt und sich im jüdischen Lager, östlich des Jordan-Flusses niederlässt. Er fragt, ob er diese Tora-Rolle mal lesen könnte und gibt sein Kommentar dazu: "Ihr Leute habt das alles falsch verstanden," verkündete dieser. "Hier wird gar nichts davon erwähnt, dass Abraham jemals Nimrod traf. Totafot sind keine Lederbehälter. Und es steht geschrieben, am Schabbat nicht aus dem Haus zu gehen."

Wenn die Leute Geduld haben, werden sie ihm ganz einfach entgegnen: "Hören Sie, sind Sie etwa ein Enkel Abrahams? Wo waren Sie als G-tt am Sinai zu Moses sprach? Haben Sie Moses je getroffen und mit ihm geredet?"

Vielleicht ist das der Grund, warum wir das Ganze nicht "Toraismus", sondern "Judaismus" nennen. Denn es handelt sich hier nicht um die Ideologie eines von einem Berg heruntergeholten Buches, sondern um ein Buch, das sich innerhalb des jüdischen Volkes befindet. Es gibt eine Sekte, die sich vom Judentum abgewendet hat und sich Karaiten nach Kara (Text) nennt. Sie verwerfen die Begriffe der überbrachten Tradition. Doch das gab uns nicht die Mehrheit unserer Weisen über die Jahrtausende zu verstehen. Sie betrachteten uns nicht als "das Volk des Buches", wie der Koran uns bezeichnet – ein Volk, das durch den engen Rahmen eines Buches definiert werden kann. Sondern eher umgekehrt: Ein Volk, dessen bloße Existenz die Bedeutung des Buches festlegt. Denn das Buch hat nur im Zusammenhang unseres Volkes, unserer Erlebnisse als Volk, und der Art und Weise, wie unser Volk das, was es erhalten, enthüllt und angewendet hat, eine Bedeutung.

Das Un-Buch

In Wirklichkeit liegt die Wurzel des Problems darin, zu glauben, dass die Tora (nur) ein Buch ist. Die Tora ist G-ttliche Weisheit. Moses, der größte aller Propheten, hat diese Weisheit direkt angezapft. Das Buch ist nur eine ihrer Erscheinungsformen, es ist das, was wir "die schriftliche Tora" nennen. In ihr gelang es Moses, die Gesamtheit dieser Weisheit zu verschlüsseln, sogar das von ihm selbst nicht ganz Erfassen, - etwa so wie ein DNA-Doppelhelix alle Eigenschaften eines ganzen Organismus codiert.

Doch noch bevor sie niedergeschrieben wurde, existierte die Tora bereits in unsrer Welt in Form von der Lehre Moses, die er dem Volk übermittelte, vor allem den Ältesten, und deren Diskussionen mit ihm. Das ist das, was wir "die mündliche Tora" nennen, die, im Gegensatz zur verbreiteten Irr-Vorstellung, der schriftlichen Tora, vorausging. Es wurde damals regelrecht gesagt, dass die vollständigste Offenbarung der G-ttlichen Weisheit, die wir Tora nennen, sich nicht darauf bezieht, wie sie in einem Buch niedergeschrieben ist, sondern wie sie im Geist jenes Volkes, das sie erhielt, existiert. Und da die Tora eine Lebensweise für alle Jahreszeiten beinhaltet, enthält die Tora auch alle Debatten und Innovationen, die durch den Beitrag dieser Leute im Verlauf der letzten 3.300 Jahre aufgetaucht sind.

Schließlich muss eine G-ttliche Weisheit von einem G-tt gegeben werden, Der über der Zeit steht und alles voraussieht. Er hat uns Seine Tora durch Moses gegeben, - so wie ein Gärtner ein Samenkorn oder ein Förster einen jungen Baum pflanzt, doch im Gegensatz zu ihnen, wusste Er wohl, wie viele Äste dieser Baum haben und welche Größe er in seinem Baumleben erreichen wird. "Sie sind der Schössling Meines Pflanzens, das Werk Meiner Hände auf das ich stolz bin." Wie ein Gärtner hat Er Sein Samenkorn gesetzt. Wie ein Handwerker hat Er das Endprodukt Schritt für Schritt geformt.

Bis der Augenblick kommt, wo uns Moses schließlich zum gelobten Land führt, entfaltet sich die gesamte Tora in voller Blüte, durch das Ringen der Menschen, die sie erhalten, beachtet und geschätzt haben. Wenn der Zusammenhang die Erde ist und der Text das Samenkorn, dann ist das jüdische Volk ein fruchtbares Feld, die Tora-Rolle ein starker Setzling und die Tora selbst das Pflanzen, das Wachsen und die Früchte eines ausgewachsenen Lebensbaumes.


Für mehr Informationen zur Chronologie und der Methode von Moses Niederschreiben der Tora, lesen Sie bitte den Text Wann und wie wurde die Tora geschrieben?