Mitten in der Nacht stand ein Fremder an der Tür, eine magere, zerlumpte Gestalt. Der Reisende war offensichtlich erschöpft und drohte zusammenzubrechen. Der Wirt, ein warmherziger, g-ttesfürchtiger Jude, bot ihm sofort einen Stuhl an, brachte ihm ein warmes Getränk, um ihn zu beleben, und servierte ihm dann eine ganze Mahlzeit. Danach schickte er ihn ins Bett.

Am nächsten Morgen hatte der Reisende sich gut erholt. Nach dem Morgengebet und einem Frühstück packte er seine Habseligkeiten in den Rucksack, dankte dem Wirt für seine Gastfreundschaft und verabschiedete sich. Der Wirt bot ihm eine Handvoll Kleingeld an, das der Mann seinem Aussehen nach dringend brauchte; aber zu seiner Überraschung lehnte der Fremde das Geld höflich ab. Der Wirt dachte, er habe ihm zu wenig Geld angeboten, und legte noch einige Münzen dazu. Doch der Mann blieb standhaft.

„Ich danke dir“, sagte er, „aber ich brauche wirklich nichts.“

Der Wirt war verdutzt. „Was meinst du damit?“, fragte er.

Der Mann erklärte: „Ich bin kein Bettler, der von Tür zu Tür geht. Vielleicht glaubst du es nicht, aber ich bin sogar sehr reich. Ich besitze Grundstücke, schöne Häuser, fruchtbare Felder und viele Obstgärten.“

Jetzt war der Wirt völlig verblüfft und bat um nähere Erläuterungen.

„Es begann vor etwa zwei Jahren“, erzählte der Fremde.

„Damals stahl mir jemand einen großen Geldbetrag. Der Verdacht fiel auf eine Dienerin, ein junges Waisenkind, das für mich arbeitete. Ich schickte sie zum Magistrat der Stadt, damit dieser den Fall aufklärte. Aber der Polizist, der sie wegbrachte, war sehr grausam und schlug sie immer wieder – so heftig, dass sie einige Tage später starb. Bis zum letzten Atemzug beteuerte sie ihre Unschuld. Ein paar Wochen später wurden die wahren Diebe gefasst, und ich bekam das Geld zurück. Ich wurde vor Reue fast verrückt. Mein Gewissen plagte mich. Ich hatte nicht nur das arme Mädchen beschämt, sondern unabsichtlich auch ihren Tod verursacht. Wie konnte ich diese Sünden jemals wieder gutmachen?

Betrübt ging ich zum Zadik Rabbi Meir von Premischlan. Der machte ein ernstes Gesicht, als ich ihm alles erzählte. Er schaute mir tief in die Augen – oder in meine Seele –, ehe er sagte: „Für dich gibt es drei Möglichkeiten, Reue zu üben. Die Erste ist der Tod; sie sichert dir einen Platz in der anderen Welt. Die Zweite ist Krankheit – du musst drei Jahre leiden. Oder du gehst drei Jahre ins Exil. Das ist die Strafe dafür, dass du einen Menschen unabsichtlich getötet hast.“

Ich bat den Zadik um einige Tage Aufschub, um nachzudenken. Jede Möglichkeit kam mir zu hart vor. Ich konnte mich nicht entscheiden. Ein paar Tage später spürte ich im ganzen Leib furchtbare Schmerzen. Der Arzt diagnostizierte eine unheilbare Krankheit. Offenbar hatte der Zadik für mich die erste Möglichkeit gewählt, den Tod, weil ich mich nicht entscheiden konnte.

Mit letzter Kraft schleppte ich mich wieder zu Rabbi Meir und bat ihn, für meine Genesung zu beten. Ich war bereit, ins Exil zu gehen. Der Zadik stellte mehrere Bedingungen: „Du musst alles, was dir gehört, bei mir lassen. Von nun an darfst du nur alte, zerlumpte Kleider tragen. Du darfst nicht mehr als eine Nacht an einem Ort verbringen. Und wenn du hungrig bist, darfst du nicht um Essen bitten; du musst warten, bis es dir angeboten wird. Drei Jahre lang darfst du nicht nach Hause zurückkehren. Aber einmal im Jahr darfst du am Eingang deiner Stadt stehen, und deine Frau darf dich über deine Ausgaben und Einnamen unterrichten. Komm wieder zu mir, wenn die drei Jahre vorbei sind, und ich werde dir deinen Besitz zurückgeben.“

Ich nahm mein Schicksal an und befolgte die Anordnungen des Zadiks zwei Jahre lang peinlich genau. Doch kürzlich erfuhr ich, dass Rabbi Meir gestorben ist. Jetzt weiß ich nicht, was ich tun soll. Wie kann ich zu ihm gehen, wenn er nicht mehr lebt? Darum will ich Rabbi Chaim von Zanz um Rat fragen.“

Damit beendete der Fremde seine Geschichte. Der Wirt, ein Anhänger von Rabbi Chaim, bestand darauf, ihn zu begleiten. Als sie das Zimmer des Zadiks betraten, begann dieser zu sprechen, noch bevor sie ihr Anliegen vortragen konnten.

„Geh nach Hause“, wies er den müden Wanderer an, „aber mache unterwegs in Premischlan Halt. Geh zu Rabbi Meirs Grab und sage ihm, der Rabbi von Zanz habe entschieden, zwei Jahre Exil seien genug, weil du sie wahrhaft aufopferungsvoll hinter dich gebracht hast.“