Im alten Tunesien bestimmte der Bey, der oberste Herrscher, wer sich um ein öffentliches Amt bewerben durfte. Das galt auch für alle Positionen in der jüdischen Gemeinde.

Einmal starb der Oberrabbiner, und man musste die Lücke füllen. Dieses Amt war überaus wichtig, weil viele wichtige Funktionen mit ihm verbunden waren. Als Oberhaupt der jüdischen Gemeinde repräsentierte der Oberrabbiner vor weltlichen Gerichten alle tunesischen Juden, und sein Wort hatte Gewicht.

Damals war Rabbi Nehorai Germon der Assistent des verstorbenen Oberrabbiners. Es war meist nur Formsache, dass der Assistent befördert wurde. Doch diesmal wehrten sich Teile der Gemeinde dagegen.

Einerseits kam Rabbi Nehorai gut mit den Menschen aus und war bescheiden. Aber wenn es galt, die Gebote der Tora und die jüdischen Bräuche einzuhalten, war er unerbittlich. Das gefiel manchen Leuten nicht. Sie wünschten sich einen Oberrabbiner, der nicht auf Details achtete und wusste, wann er ein Auge zudrücken musste. Also suchte eine Abordnung der Gegner den Bey auf.

„Rabbi Nehorai ist fanatisch“, sagten sie. „Er darf auf keinen Fall Oberrabbiner werden.“

Der Bey war durchaus empfänglich für ihre Einwände. Bald machten Gerüchte die Runde, dass Rabbi Nehorai nicht mehr im Rennen sei. Aber gerade jetzt bewies er innere Kraft und Mut.

„Wo Demut ist, da ist auch Größe“, sagen unsere Weisen. Er überwand seine natürliche Abneigung gegen Selbstlob und erkannte, dass er sich nicht guten Gewissens von der Bewerbung zurückziehen konnte. Die Würde und der Ruf des hohen Amtes verlangten mehr von ihm.

Nehorai ging zum Palast, wo er sich über die große Menschenmenge wunderte. Er bat die Wachen, ihn einzulassen, aber sie wollten ihn warten lassen, bis er an der Reihe war. Doch er forderte hartnäckig eine sofortige Audienz beim Bey. Die lautstarke Auseinandersetzung erreichte das Ohr des Bey. Er schickte einen Diener hinaus, und dieser berichtete, der Assistent des verstorbenen Oberrabbiners bestehe darauf, den Bey sofort zu sprechen. Der Bey war erstaunt über die Aggressivität des Juden und befahl, ihn einzulassen.

„Warum bist du so versessen darauf, mich zu sprechen“, fragte er Rabbi Nehorai mit gekünsteltem Lächeln, „dass du die Umgangsformen vergisst? Nehorai ließ sich nicht einschüchtern.

„Wären alle Umgangsformen eingehalten worden“, sagte er, „dann hätte ich nicht kommen müssen.“

„Was meinst du damit?“, fragte der Bey neugierig.

„Es ist Brauch, dass der Assistent des Oberrabbiners dessen Nachfolger wird.“ Der Bey hörte auf zu lächeln.

„Ich weiß aus sicherer Quelle“, sagte er, „dass du zu unflexibel für dieses Amt bist. Du hältst dich stur an angeblich unerschütterliche Grundsätze. Man sagt, dass du nicht bereit bist, um des Friedens willen Kompromisse zu schließen. Meiner Meinung nach muss ein guter Oberrabbiner wissen, wann er die Augen offen hält und wann er sie schließt.“

Nahorai schien die Worte des Bey zu ignorieren „Was für einen schönen Garten Ihr habt“, sagte er plötzlich und schaute aus dem Fenster in den wunderbar gepflegten Palastgarten. „Ich habe nie einen schöneren gesehen.“

Der Bey konnte diesem Kompliment nicht widerstehen. „Ja, er ist einmalig in ganz Tunesien“, sagte er.

„Wenn ich so kühn sein darf“, sagte Nahorai, „dann ist ein einzigartiger Garten ein Zeichen dafür, dass G–tt Euch gewogen ist.“ Der Bey lachte beinahe.

„Wenn jeder im Land so viele gute Gärtner beschäftigen würde wie ich, gäbe es viele solche Gärten. Meine Gärtner sind sehr fleißig. Sie arbeiten von morgens bis abends. Sie pflanzen, graben, stutzen und jäten. Aber was hat das mit unserem Thema zu tun?“

„Nun ja“, antwortete Nahorai, „ich fragte mich, warum Ihr unbedingt so gute Gärtner haben wollt. Warum stellt Ihr nicht einen Gärtner ein, der seine Augen manchmal aufmacht und manchmal schließt?“

„Willst du damit sagen, dass die jüdische Gemeinde einem Garten gleicht?“, fragte der Bey lächelnd.

„In mancher Hinsicht ja“, sagte Nahorai. „Unsere heilige Tora enthält 248 positive Gebote, liebliche Setzlinge in G–ttes Garten, die wir hegen und pflegen müssen. Dann gibt es noch 365 negative Gebote, die wir wie Unkraut sorgfältig ausreißen müssen. Der Oberrabbiner hat die Pflicht, für diesen Garten zu sorgen, und er muss diese Pflicht treu erfüllen.“

Das überzeugte den Bey, und einige Tage später wurde Rabbi Nahorai zum Oberrabbiner Tunesiens ernannt.