Die dieswöchige Sidra beginnt mit den Worten (Exodus 21, 1): "Und dies sind die Rechtssatzungen, die du ihnen vorlegen (wörtlich: vor sie legen) sollst." Unsere Weisen haben mehrere Interpretationen für diesen Ausdruck "vor sie" gegeben.

Die erste (Talmud, Gittin 88b, zitiert von Raschi z.St.) besagt, dass jede zwischen Juden ausgetragene Rechtssache "vor sie" kommen soll, das heißt: vor ein jüdisches Gericht, welches sein Urteil nach den Grundsätzen der Tora fällt. Sie sollten ihre Prozesse nicht vor nichtjüdischen Richtern führen, selbst wenn deren Rechtssprechung in diesem Falle mit den Prinzipien der Tora übereinstimmen würde.

Die zweite Erklärung (Talmud, Eruwin 54b) betrifft die Befugnisse eines Lehrers: Wenn man einen Schüler in der Tora unterweist, dann soll man das "Gesicht zeigen" (der hebräische Ausdruck "vor sie" bedeutet, wörtlich übersetzt, "zu ihren Gesichtern"). Das heißt, dass der Lehrer Begründungen und Erklärungen für Tora-Gesetze anführen soll, damit der Schüler sie versteht und sie nicht als bloße Dogmen hinzunehmen hat.

Eine dritte Interpretation ist von R. Schneur Salman, dem Begründer des Chabad-Lubawitsch-Chassidismus, vorgelegt worden ("Tora Or, zu unserer Sidra), nämlich dass "vor sie" gleichbedeutend ist mit "vor ihr innerstes Selbst". Demzufolge verlangt unser Vers, G-tteserkenntnis sollte in die innersten Bereiche der jüdischen Seele eindringen. Dafür gibt es einen Anhaltspunkt im Talmud Jeruschalmi (Awoda Sara 2, 7), wo es heißt, dass die Schatzkammer der menschlichen Seele beleben soll.

Es gibt ein wichtiges Prinzip, und es hat allgemeine Zustimmung gefunden: Wenn es unterschiedliche Auslegungen ein und derselben Tora-Worte gibt, dann stehen solche Auslegungen in einer inneren Beziehung zueinander. Demnach: Was ist das Wesen dieser inneren Beziehung hier?

Die Antwort lässt sich einem weiteren Kommentar unserer Weisen entnehmen (Schmot Rabba, Mechilta und Tanchuma z St): Nachdem unsere Sidra (wie oben zitiert) mit dem Worte "und" beginnt, ist hiermit, unseren Weisen zufolge, eine Fortsetzung des vorherigen Themas ausbedungen. So denn sind die Rechtssatzungen der dieswöchigen Sidra eine Fortsetzung der Zehn Gebote, die den Kernpunkt der vorigen Sidra bilden; und wie diese sind sie am Sinai verkündet worden.

Die Zehn Gebote lassen sich in zwei Gruppen einteilen, nämlich: einmal die höchsten Prinzipien der Einheit G-ttes, und dann "einfache" soziale Gesetze. Mit dieser Verschmelzung der beiden, an sich nicht analogen Kategorien (einerseits Grundsätze des Glaubens, andererseits von der Vernunft gutgeheißene Rechtsordnungen) zu einem Ganzen lehrt uns die Tora, dass sogar Vorschriften wie "du sollst nicht stehlen" nicht deshalb zu befolgen sind, weil sie der Vernunft einleuchten, sondern weil sie der Wille G-ttes sind.

Mit dieser Überlegung wird sofort die oben zitierte erste Interpretation unterbaut, der zufolge ein jüdisches Gericht für einen Prozess unter Juden zuständig sein soll: Alles Recht ist Tora-Recht. Die dritte Auslegung findet damit gleichfalls ihre Erklärung; ihr zufolge müssen auch Gesetze, die an sich der Vernunft einleuchten würden, nicht deshalb, sondern aus der "Innerlichkeit der Seele" befolgt werden. Die zweite Erklärung schließlich ist von ganz besonderer Dynamik: Wenn diese Rechtssatzungen gelehrt werden sollen, damit der Schüler "sie versteht", dann dürfen sie zwar einerseits durchaus nicht als etwas Irrationales andererseits aber auch nicht als lediglich ein Diktat der Vernunft angesehen werden. Sie sollen "mit" der Zustimmung des Verstandes, nicht aber "wegen" seiner Zustimmung befolgt werden. Es ist dies ein scharfer Unterschied. Unsere Weisen legen sehr bestimmt fest: Die Vernunft darf nicht das Maß aller Dinge sein.