In der heutigen Sidra findet sich der Ausdruck "W’rapo j’rape" – er soll bestimmt heilen (Exodus 21, 19). Hieraus entnehmen wir, so bemerken unsere Weisen, dass ein Arzt heilen darf. Man sollte nämlich nicht meinen, wir hätten nicht das Recht, Krankheiten zu heilen, die doch ursprünglich von G-tt geschickt worden sind. Noch mehr: Aus den Worten an anderer Stelle in der Sidra "und du sollst ihm zurückerstatten" (Exodus 23, 4) – die sich auf die Rückgabe von verlorenem Eigentum beziehen – entnehmen wir, dass es nicht nur gestattet ist, zu heilen, sondern dass eine Verpflichtung dazu besteht.

Diese beiden Kategorien – Erlaubnis zu heilen und Verpflichtung zu heilen – kommen gleichfalls auf geistiger Ebene zur Anwendung; denn auch spirituell kann jemand krank sein. Es gibt, zudem, noch die Krankheit eines Menschen, der den 49. Grad von Verständnis erreicht hat (das hebr.: Wort "Choleh" – krank – hat den Zahlenwert 49), dem aber der höchste, der 50. Grad, fehlt. Der Unterschied zwischen diesen beiden Gruppen von spiritueller Erkrankung ist ein offensichtlicher. Die Erklärung, kurz, ist diese:

Es gibt Juden, die in Bezug auf die Einhaltung der Mizwot erkrankt sind. Unsere 248 positiven Gebote und die 365 negativen (also: die Verbote) entsprechen den 248 Gliedern und 365 Sehnen des menschlichen Körpers. Ein solcher Patient bedarf ganz gewiss der Heilung.

Der andere Typus eines Kranken ist derjenige, dem nur noch der 50. Grad fehlt. Dies war das Niveau unseres Lehrers Moses, auf den die Aussage zutrifft: "Du hast ihn nur ein wenig niedriger als G-tt gemacht." Er hatte das Verdienst, dieses Niveau zu erreichen, als er auf dem Berge Newo starb (hebr.: Newo = "Nun wo" – also "50 in ihm").

Jede Heilung muss der Krankheit entsprechen. Bei einem Patienten, der krank in der Einhaltung der Mizwot ist, ist die Heilung eine Pflicht. Bei demjenigen dagegen, dessen Krankheit darin liegt, dass er noch nicht auf dem 50. Grad angekommen ist, kommt unser Vers "W’rapo j’rape" zur Anwendung – es besteht eine Erlaubnis zu heilen. Diese muss nicht ungedingt für jeden Augenblick gelten.

Aus all diesem lässt sich folgende Anleitung entnehmen:

Wenn von einem Juden erwartet wird, dass er Jüdischkeit verbreite, dass er also andere beeinflusse, die Mizwot zu erfüllen, und er antwortet, er habe dazu nicht die Zeit, denn er benötige jede Minute, um für sich selbst den 50. Grad zu erlangen, dann muss ihm diese Vorhaltung gemacht werden: Wenn immer man aufgefordert ist, einen Juden zu heilen, dann handelt es sich jedes Mal um einen, dessen Krankheit geheilt werden muss, wogegen dasjenige, das man selbst zu tun wünscht (an sich zweifellos eine sehr gute Sache), im Vergleich damit nur freigestellt ist.

Denn jeder Jude ist gleichwertig, wo immer es um die Ausübung der Gebote geht; die Mizwot sind wesentlich für jeden, gleich ob es Tora-Gebote oder "rabbinische" Vorschriften sind: "Hiddur Mizwa" ("Verschönerung" der Mizwa) hingegen gilt nicht für jeden – nur für gewisse Menschen. Es kann sogar sein, dass der Antrieb dazu, eine Mizwa in der Form von "Hiddur" zu erfüllen, aus dem "Jezer Hara" (dem bösen Trieb) entspringt; dieser könnte, immerhin, Menschen dahingehend beeinflussen, dass sie eine Mizwa auf eben diese Weise erfüllen, und dabei nicht das, was elementar ihre Pflicht ist.

In der Praxis wirkt sich all dieses so aus: Jeder muss das tun, was seine Pflicht ist, nämlich die auf Abwege geratenen Juden zurückzuführen; und dann wird G-tt dem Betreffenden auch in seinen persönlichen Bemühungen und Ambitionen Erfolg geben, sogar bis zum 50. Grad.