Im ersten Teil der dieswöchigen Sidra Wajeschew gibt die Tora uns einen Bericht über Josefs zwei Träume (Genesis 37, 5-9). Beiden wohnt die gleiche symbolische Bedeutung inne, nämlich dass Josef über seine Brüder herrschen und sie ihm huldigen würden. Der zweite Traum enthielt lediglich den Zusatz, dass "Sonne und Mond" – Jakob und Bilha – auch in die Huldigung einbezogen sein würden.
Offenbar besteht eine frappante Parallele zwischen dieser Schilderung und derjenigen in der Sidra von nächster Woche (Mikez), in der die zwei Träume des Pharao dargestellt werden (Genesis 41, 1-7). Bei Pharao jedoch gibt die Tora selbst den Grund dafür an, warum es nicht ein, sondern zwei Träume waren (Genesis 41, 32): "Weil diese Sache bei G-tt feststeht und G-tt es bald in die Tat umsetzen wird". Bei Josefs eigenen Träumen, in unserer Sidra, dagegen wird keine Begründung für die Wiederholung mitgeteilt, und in der Tat hätte der genannte zusätzliche Punkt des zweiten Traumes bereits im ersten angedeutet werden können.
Wir sind daher zu der Schlussfolgerung gezwungen, dass Josefs zwei Träume, obzwar in ihrem symbolischen Gehalt identisch, auf verschiedene Punkte anspielen. Was sind diese zwei verschiedenen Dinge?
Und, nachdem das wichtige Prinzip gilt, dass die Taten der Vorväter Vorbild und Lehre für ihre Nachkommen sind, ist eine weitere Frage ebenfalls zu beantworten: Was ist die spezifische Lehre und "Botschaft" für uns selbst? (Josefs Taten sind im Lebenswerk der drei Stammväter schon deshalb mit eingeschlossen, weil unsere Sidra ja mit den Worten beginnt (Genesis 37, 2): "Dies sind die Generationen Jakobs: Josef.")
Der Unterschied zwischen Josefs beiden Träumen ist dieser: Der erste nimmt Bezug auf Dinge der Erde, weil von "Garben inmitten des Feldes" die Rede ist. Der zweite aber weist hin auf den Himmel, denn hier ist das Bild dasjenige von "Sonne, Mond und elf Sternen".
Im Symbolismus von Pharaos Träumen dagegen ist beide Male allein auf die Erde hingewiesen, und in der Tat ist darin gleichzeitig sogar eine rückläufige Entwicklung enthalten, nämlich vom Reiche der Lebewesen (die sieben Kühe) zum Pflanzenreiche (die sieben Kornähren). Denn Pharao hatte keine Verbindung zur Sphäre des Himmlischen. Und während seine Träume somit einen Rückgang anzeigen, ist in Josefs Träumen ein Ansteigen in Heiligkeit impliziert.
Diese Unterscheidung zwischen Josef und Pharao weist hin auf den einmaligen Charakter eines Juden, und zwar in der Weise, dass er stets mit materiellen Belangen zusammen mit geistigen Dingen beschäftigt ist, in diese Welt und in die kommende verwickelt. Wie es der frühere Lubawitscher Rebbe s.A. zum Ausdruck gebracht hat, als er 1927 in Russland verhaftet wurde und einer der Schergen ihm mit einem gezückten Revolver drohte: "Menschen, die viele Götter und dabei eine Welt haben, fürchten sich vor einem Revolver; ein Mensch, der einen G-tt und zwei Welten hat, braucht sich vor nichts zu fürchten."
Diese beiden Welten sind nicht durch den Begriff von Zeit voneinander getrennt – dass es also, sozusagen, eine diesseitige Gegenwart und dann eine jenseitige Zukunft gäbe. Vielmehr ist der Jude an eine höhere geistige Realität schon mitten im Leben auf dieser Welt gebunden. Er steht, gleichsam, auf einer "Leiter, die von der Erde in den Himmel reicht" (Genesis 28, 12) – in immerwährendem Anstieg.
Das ist der Weg, der für jeden Juden – und daher für uns selbst auch – mit den Träumen Josefs vorgezeichnet ist. Erst einmal ist da die "Arbeit im Felde", das ist die Aufgabe (Awoda – Dienst), die Welt, die an sich aus getrennten Einheiten und Gegensätzen besteht, zu vereinigen und aneinander zu binden, im Dienst G-ttes (Josefs Traumbild vom "Binden der Jahren"). Ergebnis und Auswirkung dieser Mühewaltung werden sein, dass man "nach oben ansteigt", immer mehr Heiligkeit schafft – weil dieser Lohn von Heiligkeit ersteht, wenn dafür regelrecht in dieser Welt gearbeitet, sich schon hier unten damit abgemüht wird.
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