Die dieswöchentliche Sidra spricht nochmals von der Offenbarung der Zehn Gebote. Das erste Wort, das vom Berge Sinai herunterschallte (Deut. 5, 6) war "Anochi" – "Ich" (bin der Herr, dein G-tt usw.). Der Midrasch bemerkt, dass "Anochi" ein ägyptisches Wort ist (Tanchuma, Ausgabe Baber, Jitro 16; Jalkut Schimoni, ibid.).

Die zehn Gebote sind gewissermaßen ein Abriss der ganzen Tora. Die ersten zwei Gebote wiederum fassen alle zehn zusammen (s. Schlo, Anfang von Jitro; Tanja, Kap. 20): alle positiven Gebote kommen unter die Kategorie "Ich bin der Herr, dein G-tt", während alle Verbote (negativen Gesetze) in die allgemeine Klasse fallen "Du sollst keine anderen Götter neben Mir haben". Das erste Wort des ersten Gebotes – Anochi – ist die Überschrift des ganzen Dekalogs. Dieses Wort "Anochi" – "Ich" – deutet das höchstmögliche Attribut G-ttes an; sein Sinn ist: "Ich, der Ich über allem Begreifen und Verstehen stehe (s.Sohar III, 257b); Ich, der Ich mit keinem Worte oder Namen beschrieben werden kann; Ich bin, der Ich bin."

Wie erstaunlich ist es dann, zu erfahren, dass sich dieses "Wort der Wörter" nicht aus reinem Hebräisch ableitet, aus der "Heiligen Sprache", sondern aus der Sprache der Ägypter, des Volkes, das zu jener Zeit das moralisch verderbteste aller war!

Dieser Tatsache wohnt folgende Bedeutung inne: Es war das Ziel jener einmaligen, nie mehr wiederholten G-ttlichen Offenbarung am Berge Sinai, dass sie nicht nur das Gebiet der "Heiligen Sprache" – d.h. rein heilige Angelegenheiten – betreffen sollte; sondern sie sollte schließlich auch das Gebiet der ägyptischen Sprache durchdringen, d.h. den absoluten Gesatz der Heiligkeit. In anderen Worten: Im alleresten Augenblick Seiner Offenbarung an Sein Volk zeigte G-tt an, dass die Tora nicht zu einer "Synagogen-Religion" sondern zu einem lebendigen Glauben werden sollte, mit Einfluss und Auswirkung auf alle Gebiete des weltlichen Lebens.

Wenn wir nun das eben Ausgeführte in eine praktische Lehre für unser tägliches Leben übersetzen wollen, so bedeutet es, dass wir es fertig bringen müssen, die jüdische Religion so auszuüben, dass unser Glaube unser ganzes Leben bestimmt: Das Studium der Tora und die Gebete reichen als solche nicht aus, wenn sie nicht auch all unsere weltlichen Angelegenheiten beeinflussen, wie Essen, Trinken, Geschäftsgebaren und Freizeit. Wie König Salomon es ausdrückte (Sprüche Salomons 3, 6; Tur Schulchan Aruch, Orach Chajim 231): "Kenne Ihn in all deinen Wegen." Mehr noch: die Tora muss bis an alle Enden der Welt gebracht werden. Wir sollten unser großes Erbe unter unseren weniger gut unterrichteten Brüdern verbreiten und durch unser praktisches Beispiel zeigen, wie die Gesetze der Tora die ganze Gesellschaftsordnung verbessern können.