Unsere Parascha beginnt mit den Worten: „Und G-tt sprach zu Mosche auf dem Berg Sinai usw.“ Die Tatsache, dass sie auf dem Berg Sinai gegeben wurde, wird in unserer Tora öfters betont. Auch der Traktat „Awot“ beginnt mit den Worten: „Mosche empfing die Tora von Sinai“.
Warum spielt der Ort, an welchem die Tora gegeben wurde eine solch grosse Rolle? Und wie sollen wir verstehen, dass Mosche die Tora von Sinai empfing? Er empfing sie doch von G-tt auf dem Berg Sinai?!
Im Midrasch wird erklärt, dass es in der Gegend viele grössere und beeindruckendere Berge gab, auf welchen G-tt die Tora hätte geben können. Doch wählte G-tt den Berg Sinai, der aufgrund seiner kleinen Statur die Bescheidenheit und Demut symbolisiert.
Nun stellt sich aber die Frage, weshalb denn G-tt überhaupt einen Berg und nicht eher ein Tal wählte, um darauf die Tora zu geben? Würde das nicht besser mit dieser Idee übereinstimmen?
Um dies zu beantworten, müssen wir das Wesen der Bescheidenheit (in Hebräisch: (Anawa) ein wenig erklären. Bescheidenheit ist kein Widerspruch zu einem sicheren Auftreten und einer selbstbewussten Haltung. Im Gegenteil: Die Tora verlangt vom Menschen, in verschiedenen Situationen mit grossem Engagement und sehr energisch für das Richtige zu kämpfen. Die Frage lautet nur, ob der Mensch auf seine Errungenschaften stolz ist und sich seinen Erfolg selbst zuschreibt oder anerkennt, dass ihm alles von G-tt gegeben wurde.
Der Berg Sinai symbolisiert eben dies Synthese: Einerseits handelt es sich von einem Berg, doch dieser Berg ist niedrig. Deshalb wurde die Tora auch nicht in einem Tal gegeben, denn sie verlangt vom Menschen keineswegs Unterwürfigkeit sondern eben nur Bescheidenheit. So lässt es sich auch erklären, dass Mosche die Tora vom Berg Sinai empfing: Aus der Tatsache, dass G-tt gerade diesen Ort für das Geben der Tora auserwählt hatte, lehrte Mosche, wie der Mensch in seinem Leben diese Haltungen vereinen kann und soll.
So können wir auch verstehen, was im Talmud über Raw Josef erzählt wird: Einst hörte er einen Toragelehrten sagen, seit Rabbi Jehuda Hanassi verstorben sei, gäbe es in der Welt keine echte Bescheidenheit mehr. Darauf reagierte er: „Sage das nicht, denn es gibt mich und ich bin bescheiden.“ Auf erstem Blick mutet dies merkwürdig an: Wie kann jemand von sich selbst behaupten bescheiden zu sein? Ist nicht gerade diese Aussage ein Zeichen von Arroganz?
Doch Bescheidenheit bedeutet eben nicht, dass der Mensch seine guten Eigenschaften verleugnet. Selbst die gute Eigenschaft von Bescheidenheit muss von einem bescheidenen Mensch nicht verleugnet werden. Was die Bescheidenheit ausmacht ist, dass er trotz des Bewusstseins seiner guten Eigenschaften, den Dank dafür G-tt und nicht sich selbst zuschreibt.
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