Es heißt in der dieswöchigen Sidra (Num. 12, 3, und siehe dazu auch Nachmanides und Or Hachajim z. St.): "Und der Mann Moses war äußerst demütig, mehr als irgendein Mensch auf dem Erdboden." Moses führte sich in Demut vor aller Welt. Wer denn war dieser bescheidene Mann?

Moses empfing die Tora am Berge Sinai, als G-tt ihn diese innerhalb von 40 Tagen lehrte. Er hatte die Israeliten aus Ägypten herausgeführt, und G-tt hatte zu ihm gesagt (Ex. 19, 9): "… und auch dir sollen sie immer vertrauen …" In unserer Sidra selbst nun wird dargelegt, dass Moses mit G-tt sprechen konnte, wann immer er dies wollte (Raschi zu Num. 9, 7), dass G-tt ihm mitteilte, den 70 Ältesten würde ein Teil seines Geistes eingegeben und dennoch nichts von seinem Geiste weggenommen werden (Raschi zu Num. 11, 17), und dass seine Statur im Vergleich mit dem Volke wie die "einer Mutter zu einem Säugling" (Num. 11, 12) sein würde.

Das war Moses! War er sich vielleicht seiner höheren Eigenschaften, seiner unvergleichlichen Leistungen nicht bewusst? Gab er sich der Selbsttäuschung hin? Die Antwort ist: Ganz offensichtlich war dies nicht der Fall. Wenn dem so ist, wie war es dann möglich, dass Moses so echt bescheiden war, angesichts jedes Menschen der Erde?

Der Chassidismus liefert die folgende Erklärung: Obwohl Moses seine eigenen Fähigkeiten durchaus kannte, und obwohl er wusste, dass er auf einer höheren Stufe als alle anderen Menschen stand, war er dennoch demütig vor allen. Denn er wusste ganz genau, dass diese Eigenschaften, durch die er alle übertraf, ihm von G-tt gegeben worden waren, und er urteilte so: Wenn jemand anderes diese Eigenschaften besäße, dann hätte jener andere ebenfalls auf dieser höheren Stufe gestanden. Es wäre sogar denkbar gewesen, dass jemand anderes, wenn ihm ähnliche Kräfte und Eigenschaften verliehen worden wären, diese noch besser als er zum Einsatz gebracht hätte. Weil er so argumentierte, eben deshalb war er demütig vor allen.

Hiermit denn kommen zwei bestimmte Gesichtspunkte zum Vorschein: Erstens, dass Mosche genau wusste, dass seine Größe an sich nicht seine eigene war. Seine hervorragenden Fähigkeiten hatte er von G-tt erhalten; daher konnte er selbst für diese weder einen Verdienst in Anspruch nehmen noch sich über andere mit weniger Fähigkeiten "überlegen" denken.

Und doch ist dieses Argument allein noch unzureichend, um Moses’ Selbsterniedrigung und Demut völlig zu begründen. Denn bis jetzt ist damit nur erklärt, warum er sich nicht besser als andere dünkte. Deshalb weist der Chassidismus noch auf einen weiteren Gesichtspunkt hin: Moses argumentierte, dass jemand anderes, wenn nur mit gleichen Fähigkeiten ausgestattet, diese besser entwickelt hätte als er selbst. Der andere hätte Moses’ Niveau überstiegen; und das war es, das ihn so demütig vor jeder anderen Person machte.

Nun ließe sich hierzu einwenden, jeder der andere könnte doch sich über sich genauso denken, und daraus ergäbe sich die Frage: Warum gibt es nicht eine Unmenge demütiger Menschen? Warum war Moses, vielmehr, ein so hervorstechender Ausnahmefall von Demut?

Die Antwort ist in der eigentlichen Natur von Demut und in ihrer Definition zu finden; denn es gibt zwei Arten von Demut: Einmal kann diese auf vernünftige Überlegungen zurückgehen, also Ergebnis intelligenter Selbsteinschätzung sein. Zweitens aber gibt es eine innere, angeborene, selbstverständliche Demut, instinktiv, ohne rationelle Überlegungen. Nur ein in sich schon bescheidener Mensch kennt einen Gedankengang wie (oben) bei Moses präzisiert: Moses war schon von Natur aus zu Bescheidenheit veranlagt.