Schon über 2000 Jahre befindet sich das jüdische Volk in der Galut. Viel Leid musste es durchmachen und noch immer hat es der Maschiach nicht erlöst. Und die immerwährende Frage, die sich stellt, ist: Wozu muss das jüdische Volk so viel durchmachen?

Eine Antwort dazu finden wir in unserem Wochenabschnitt. Josef nannte seinen zweiten Sohn Efraim, mit der Begründung: Denn fruchtbar machte mich G-tt im Lande meines Elends1 („Efraim“ und „fruchtbar“ haben im Hebräischen denselben Wortstamm). Gerade durch die Galut „im Lande meines Elends“ erlangte Josef einen irrsinnigen Aufstieg in seinem Leben („fruchtbar“). Und darin liegt der Sinn der Galut: in diesen schweren Zeiten seine innersten Kräfte zu erwecken, zu reifen und aufzusteigen.

Josef an sich stand schon auf einem sehr hohen Niveau, höher als seine Brüder und in gewisser Weise sogar höher als sein Vater. Um jedoch sein Potential richtig auszuschöpfen und noch höher zu steigen, musste er die Galut in Ägypten durchleben.

Unbekannte Größe

Die seelische Überlegenheit Josefs gegenüber seinen Brüdern wird in folgendem Vers angedeutet: Und Josef erkannte seine Brüder, doch sie erkannten ihn nicht.2 Die Lehre der Chassidut bezieht diesen Vers darauf, dass seine Brüder nicht einmal eine Vorstellung von der seelischen Größe Josefs hatten – „sie erkannten ihn (sein seelisches Niveau) nicht“.

Die Brüder Josefs waren ehrliche G-ttesdiener und strebten danach, G-tt anzuhangen. Ihnen war bewusst, dass sie dafür der Weltlichkeit entsagen mussten. Deshalb entschieden sie sich, Schafshirten zu sein; weit weg auf den Weiden konnten sie seelische Ruhe finden. Josef hingegen steckte Hals über Kopf im Zentrum der Weltlichkeit. Doch obwohl er über ganz Ägypten regierte, verwirrte dies nicht seine Sinne und er blieb G-tt treu. Diese Fähigkeit, extrem weltlich und dennoch streng religiös zu sein, kannten die Brüder Josefs nicht. Deshalb „erkannten sie ihn nicht“.

Gänzliches Vertrauen

Josefs Stufe war sogar höher, als die seines Vaters Jakow. Unsere Meister sagen3, dass Josef dafür bestraft wurde, weil er auf die Hilfe eines Menschen hoffte (dem Mundschenk), als er ihn darum bat, dem Pharao von ihm zu erzählen. Seine Strafe war, dass der Mundschenk Josef nicht gedachte und ihn vergaß.4 Denn für einen Zadik (tadellosen G-ttesdiener) gilt es als Sünde, auf die Hilfe von Menschen zu hoffen, da er all sein Vertrauen in G-tt zu legen hat.

Doch die Thora erzählt auch über Jakow, dass er die Gunst seines Bruders suchte, als er ihm Geschenke sandte und ihn sogar „mein Herr“ nannte.5 Und nirgends in den Schriften wird dies Jakow als Sünde angerechnet!

Darin liegt der Unterschied zwischen Josef und Jakow: Jakow war in gewisser Weise an die Normen der Welt gebunden und musste deshalb auch auf natürlichem Wege (wie es eben die Normen der Welt verlangen) Lösungen finden. Doch Josefs Stufe war um vieles höher. Er stand gänzlich über den Normen der Welt und sollte deshalb all sein Vertrauen G-tt geben, ohne einen natürlichen Weg (den Mundschenk um Hilfe bitten) versuchen zu müssen.

Das Geheimnis der Galut

Und obwohl Josef auf einer solch hohen Stufe stand, erreichte er seine wahre geistliche Größe gerade in der Galut: Denn fruchtbar machte mich G-tt im Lande meines Elends. Darin eben liegt das Geheimnis der Galut – nur dadurch kann man sein wahres, seelisches Potential ausschöpfen und einen Aufstieg erleben, der sonst nicht möglich wäre!

Josef ebnete den Weg für das gesamte jüdische Volk. Durch seine persönliche Galut kam es zur Sklaverei in Ägypten und nur durch diesen tiefen Abstieg erlangte schließlich das jüdische Volk die wunderliche Freiheit und erhielt die Thora. So handelt es sich auch mit der Galut, in der wir uns bis heute befinden. Nur durch diesen großen Abstieg erhalten wir „den Schwung“ für einen noch höheren Aufstieg; und das ist die vollkommene Erlösung mit all ihren Wundern und g-ttlichen Offenbarungen.

(Likutej Sichot, Band 1, Seite 88)