Die spektakuläre G-ttesoffenbarung am Berg Sinai beginnt mit den Worten: Ich bin G-tt, Dein G-tt.1 Diese Verkündung war der Beginn einer unzertrennbaren Bindung zwischen G-tt und dem jüdischen Volk. Der erste Buchstabe dieses Ausspruchs ist das Alef (א). Die Bindung zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer also findet ihren größten Ausdruck in dem Alef.

Als der „Alter Rebbe“2 einen Religionslehrer für seinen Sohn suchte, holte er einen erfahrenen Thorastudenten zu sich und machte ihm folgendes Angebot: „Siehe, deine Aufgabe ist es deine Familie zu ernähren und meine die Pflicht ‚und du sollst sie deinen Kindern lehren‘ zu erfüllen. Lass uns tauschen! Ich gebe dir alles, damit du deine Familie mühelos ernähren kannst und du belehrst dafür meinen Sohn.“

Der Student war einverstanden und fragte: „Auf welche Weise soll ich den Sohn des großen Rebben belehren?“ Antwortete ihm der Alter Rebbe: „Man beginnt mit dem Alef-Bet (das jüdische Alphabet). Der erste Buchstabe, den ein jüdisches Kind lernt, ist das Alef. Was ist das Alef? – ein Punkt oben und ein Punkt unten; und eine ‚Linie der G-ttesfurcht‘, die beide Punkte verbindet!“3

Seele und Körper

Der Alter Rebbe erklärte dem Thorastudenten weiter, dass der obere Punkt die Seele symbolisiert und der untere den Körper. Diese beiden Individuen sind in ihrem Konzept in völliger Gegensätzlichkeit. Die Seele ist rein und geistlich, Eigenschaften, die mit der materiellen Weltlichkeit des Körpers im Widerspruch stehen. Die Verbindung zwischen ihnen entsteht durch eine „Linie der G-ttesfurcht“.

Das Alef symbolisiert auch die Beziehung zwischen G-tt und dem Menschen. Der obere Punkt steht für den unendlichen G-tt, Der über allen nur denkbaren Grenzen der physischen und esoterischen Welt steht. Der untere Punkt ist der irdische Mensch, erschaffen in seiner Begrenztheit. Die Verbindung des Menschen zu seinem Schöpfer entsteht durch die Thora und ihrer Gebote — ein Werkzeug –, von G-tt dem Menschen übergeben, damit seine endliche Existenz mit der Unendlichkeit in Verbindung treten kann.

Unantastbarkeit

G-tt und der Mensch werden absichtlich mit einem Punkt symbolisiert. Das Charakteristische an einem Punkt, seiner minimalen Größe wegen, ist seine (verhältnismäßige) Flächenlosigkeit und „Nichtexistenz“. Deshalb steht er für die völlige Annullierung und das Gefühl der Selbstlosigkeit.

G-tt wird mit einem Punkt symbolisiert, weil Er für uns unantastbar ist, da wir von Seiner Existenz nichts wissen, außer einem Punkt – dass Er existiert. Das ist der obere Punkt. Der Punkt symbolisiert auch den Menschen. Denn seine einzige Möglichkeit eine Bindung mit G-tt einzugehen, ist einzusehen, gegenüber G-tt nicht mehr als ein „Punkt“ zu sein; das Gefühl der Selbstlosigkeit und völligen Hingabe zu seinem Schöpfer. Das ist der untere Punkt.

So beginnt alles

Die Bindung zwischen dem Menschen und G-tt entsteht durch eine „Linie der G-ttesfurcht“ – die hingabevolle Erfüllung der Thora und ihrer Gebote. Denn sobald der Jude die Thora G-ttes studiert und Seine Mitzwot erfüllt, wird er von einem Punkt (der völligen Existenzlosigkeit) zu einem Teil im Buchstaben Alef des „Ich bin G-tt, Dein G-tt!“

Die Erkenntnis, dass der Mensch nur ein Punkt ist und erst durch die „Linie der G-ttesfurcht“ Teil der wahren Existenz (G-tt) wird, bildet das Fundament für den Erhalt der Thora. Und sie ist auch die Basis für die Erziehung jedes jüdischen Kindes. Es ist die richtige Kombination zwischen Demut und einem starken Selbstbewusstsein über die Aufgabe des Juden auf Erden. Denn die Erkenntnis, dass der Jude (nur ein Mensch) eine enge Bindung mit dem unendlichen Schöpfer durch das Erfüllen Seiner Mitzwot eingehen kann, verleiht seinem Leben Sinn und die Entschlossenheit auch dann, wenn sein Judentum auf die Probe gestellt wird, dafür zu kämpfen und seine Identität in Wort und Tat zu bewahren.

(Likutej Sichot, Band 2, Seite 615)