Falls Sie den Wochenabschnitt Ki Teze in irgendeiner Übersetzung lesen, beginnt er so: „Wenn ihr gegen eure Feinde in den Krieg zieht ...“ Verglichen mit dem hebräischen Original ist das nur eine ungefähre Wiedergabe. Al, das hebräische Wort, das mit „gegen“ übersetzt wird, bedeutet eigentlich „über“. Mit dieser Wortwahl lehrt die Tora uns etwas sehr Wichtiges über den Krieg. Um siegreich zu sein, müssen wir „über dem Feind“ stehen. Solange zwei Gegner sich von Angesicht zu Angesicht und auf derselben Ebene gegenüberstehen, gibt es keinen echten Sieger, den selbst derjenige, der gewinnt, erleidet große Verluste. Wer siegen will, muss wirklich überlegen sein.
Wenn das früher so war, dann gilt es heute, im High-Tech-Krieg, erst recht. Brutale Kraft und Tapferkeit allein reichen heute nicht mehr aus. Kriege werden mit intelligent eingesetzten Waffen gewonnen. Wenn ein Land viel mehr über den Bau und die Anwendung von Waffen weiß als der Gegner, sind einseitige Siege wie im Golfkrieg möglich.
Wenn die Tora vom Krieg spricht, geschieht das auf zwei Ebenen gleichzeitig. Früher musste unser Volk genauso wie heute zu den Waffen greifen und den Rat der Tora über den Krieg nutzen. Dieser Rat ist nicht nur von philosophischem Wert, sondern er ist im täglichen Leben anwendbar.
Andererseits waren die meisten Kriege unseres Volkes im Laufe der Geschichte „spirituelle Kriege“. Der Feind war nicht „dort draußen“, sondern ein Teil unseres Wesens – denn auch in uns gibt es Kämpfe. Wir haben sowohl materielle als auch spirituelle Wünsche, und zwischen ihnen besteht eine dynamische Spannung, weil beide unser Bewusstsein beherrschen wollen. Und wenn wir intensiv leben, können wir diese Spannung als „Krieg“ bezeichnen. Insofern ist klar, wie wichtig es ist, „über dem Feind“ zu stehen. Wenn unsere Spiritualität mit den gleichen Waffen – mit gewöhnlichen Gefühlen und Gedanken – wie unsere materielle Gesinnung kämpft, erringt keine Seite einen echten Sieg. Aber in uns ruht ein wahrhaft überlegendes spirituelles Potenzial, denn unsere Seele ist „ein echter Teil G–ttes“. Wenn wir dieses Potenzial ausdrücken, sind wir unseren materiellen Gedanken weit überlegen.
Doch der Rat, über dem Feind zu stehen, hat noch einen anderen Sinn: Wenn wir jemandem auf derselben Ebene begegnen, werden wir oft aggressiv und wollen den Feind vernichten oder zumindest verletzen. Wenn wir über ihm stehen, empfinden wir Mitgefühl. Das heißt nicht, dass wir den Sieg weniger entschlossen anstreben - aber wir wollen siegen und nicht Rache üben. Und sobald der Sieg errungen ist, sind wir bereit, den Feind zu belehren, anstatt ihn auszulöschen.
Das alles meint die Tora, wenn sie rät, Kriegesgefangene zu machen, also Gegner zu Freunden zu machen, und eine schöne Frau - die positiven Eigenschaften des Feindes - unter ihnen zu suchen und sie später zu heiraten, also in unser Leben zu integrieren.
Was den Kampf des Geistes anbelangt, will das Judentum die materiellen Neigungen ebenfalls nicht vernichten, sondern ihnen Zügel anlegen und sie in positive Kräfte umwandeln. Das höchste Ziel ist die „Heirat“: die Verschmelzung des Spirituellen mit dem Materiellen.
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