Als Jakow seine Söhne vor seinem Tod segnete, läuterte er Ruwen, den Erstgeborenen, wegen seiner Sünde. Dieser hatte aus dem Zelt Bilhas, der Nebenfrau Jakows, das Schlaflager seines Vaters getragen, welches Jakow nach dem Tod Rachels dorthin verlegt hatte, und es in das Zelt seiner Mutter Lea gebracht, um ihre Schande darüber, dass Jakow es bevorzugte das Zelt einer Nebenfrau statt das seiner zweiten Frau aufzusuchen, zu mildern.

Für dieses Vergehen nahm Jakow Ruwen den Anspruch auf das Priestertum und Königtum. Letzteres übergab er Jehuda mit der Erklärung: Vom Raube, mein Sohn, kommst du herauf. Raschi erklärt1, dass Jakow damit Jehuda seine Zufriedenheit mit dessen richtigem Handeln in zwei verschiedenen Situationen andeutete: Dem Vorschlag Josef zu verkaufen, was den Mord an ihn abgewendet hatte, und mit Jehudas Eingeständnis über seine Sünde Tamar gegenüber, wodurch Tamar dem Todesurteil entronnen war.2

Sklavenhandel

Näher betrachtet aber sehen wir, dass genau dieselben Privilegien, die Jehuda zugeschrieben wurden, auch Ruwen besaß, und sogar mehr als dieser. In Bezug auf Josef läuterte er seine Brüder: „Wir dürfen ihn nicht totschlagen!“, und während Jehuda durch seinen Verkauf Geld erwarb und Josef in die Sklaverei abschob, wollte Ruwen den Knaben zu seinem Vater zurückbringen.

Auch war die Reue Ruwens über seine Sünde viel tiefer als die von Jehuda. Jehuda gestand gezwungenermaßen seine Sünde, damit Tamar nicht auf dem Scheiterhaufen verbrannt würde. Die Tat Ruwens aber galt die Schande seiner Mutter zu mildern, und dennoch empfand er so tiefe Reue, dass er noch neun Jahre später – bei dem Verkauf Josefs – in seine Tschuwa vertieft war.

Eigene Perfektion

Ruwen verlor den Anspruch auf das Priesterund Königtum, aber das Erstgeborenenrecht blieb ihm. Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen König- und Priestertum und dem Recht des Erstgeborenen. König- und Priestertum drücken vor allem die Hingabe für die Gesellschaft aus. Der König ist für ein ganzes Volk verantwortlich; der Priester segnet das Volk und bringt seine Opfer dar. Das Recht des Erstgeborenen aber hat nur Vorteil für den Menschen selbst.

Der erstgeborene Ruwen verkörpert eigene Vollkommenheit. Er bemüht sich um die Rettung Josefs und übt Jahre lang aufrichtige Tschuwa wegen seines Vergehens. Was seine persönliche Lauterkeit angeht, so ist er zweifellos perfekt. Aber für die Gesellschaft ist er nutzlos. Josef konnte er nicht retten, und er bewirkte sogar fast das Gegenteil. Seines Ratschlags wegen wurde der Knabe in eine Grube voller Schlangen geworfen. Seine Tschuwa wegen seiner Sünde war eine Sache zwischen ihm und G-tt, mit der sein Menschenkreis nichts zu tun hatte; und wenn er mit der Tschuwa nicht neun Jahre beschäftigt gewesen wäre, hätte womöglich der Verkauf Josefs verhindert werden können.

Das Wohl der anderen

Jehuda hingegen, obwohl durch keine herausragende Tschuwa ausgezeichnet, setzte sich für den Nächsten ein, bis jener gerettet wurde. Durch ihn wurde Josef aus der Grube geholt, und ihm verdankte Tamar ihr Leben. Sein praktisches Handeln für das Wohl anderer war ein eindeutiges Zeichen dafür, dass gerade er dem Königtum würdig war, dessen Sinn und Aufgabe Selbstaufopferung für den Außenstehenden bedeutet. Deshalb wurde der Anspruch auf das Königtum Ruwen genommen und an Jehuda übergeben.

Das Verhalten Jehudas lehrt uns, dass der Mensch nicht nur in seinen persönlichen Fortschritt vertieft sein darf! Das Ignorieren des Mitmenschen kann zu seinem „Verkauf“ und Fall bis aufs tiefste Niveau führen. Auch wenn er – seiner Beschäftigung mit dem Mitmenschen wegen – in seiner persönlichen Lauterkeit nicht Vollkommenheit erlangt hat, so hält er dennoch dank seiner Nächstenliebe die ganze Thora in seinen Händen, denn Nächstenliebe und Thora sind so sehr miteinander verbunden, dass die ganze Thora in all ihren Wegen und Weisheiten nur ein Ziel vor Augen hat und ihre Verkörperung sich nur darin befindet – nämlich „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“!

(Likutej Sichot, Band 15, Seite 439)