Und ich, Daniel, sah die Vision allein, aber die Menschen mit mir, sahen sie nicht; eine große Angst befiehl sie und sie flohen und versteckten sich.

Daniel 10:7

Aber wenn sie die Vision nicht sahen, warum gerieten sie in Angst? Weil, auch wenn sie sie selbst nicht sahen, ihre Seelen sie sahen.

Talmud, Megilla 3a

Am neunten Tag des Monats Aw („Tischa BeAw“) fasten und trauern wir, ob der Zerstörung des Heiligen Tempels in Jerusalem. Beide, der erste Tempel (833 – 423 BCE) und der zweite Tempel (349 BCE – 69 CE), wurden an diesem Datum zerstört. Der Schabbat, der dem Fasttag vorausgeht, wird „Schabbat Chason“ genannt, da wir an diesem Schabbat ein Kapitel der Propheten (Jeschajahu 1:1 – 27) lesen, welches mit den Worten „Die Vision von Jeschajahu ...“ beginnt.

Aber es gibt noch eine tiefere Bedeutung bezüglich des Namens „Schabbat Chason“, welche durch den chassidischen Meister Rabbi Levi Jizchak von Berditschew mit der folgenden Metapher zum Ausdruck gebracht wird:

Ein Vater bereitete einst einen wunderschönen Anzug für seinen Sohn vor. Aber das Kind vernachlässigte das Geschenk seines Vaters und bald war der wunderschöne Anzug nur noch ein Stück zerrissene Kleidung. Der Vater gab dem Kind einen zweiten Anzug; dieser wurde durch die Sorglosigkeit des Kindes ebenfalls ruiniert. So erschuf der Vater einen dritten Anzug. Diesmal hielt er ihn vor seinem Sohn zurück. Von Zeit zu Zeit, zu besonderen und günstigen Gelegenheiten, zeigte er dem Kind den Anzug, erklärte, dass, wenn das Kind ihn schätzen lernt und sorgfältig auf das Geschenk aufpasst, es zu ihm gegeben werden würde. Dies bewirkt, dass das Kind sein Verhalten verbessert, bis es allmählich die Stufe erreicht haben wird, auf der es das Geschenk des Vaters verdient.

Am „Schabbat Chason“, sagt Rabbi Levi Jizchak, hat jeder Einzelne von uns eine Vision des dritten und endgültigen Tempels – eine Vision, über welche man, entsprechend dem Talmud, sagen kann, „obwohl wir sie nicht sehen, unsere Seelen sie [dennoch] sehen.“ Diese Vision ruft eine tiefgründige Antwort in uns hervor, auch wenn wir uns der Ursache unserer plötzlichen Inspiration nicht bewusst sind.

Der g-ttliche Wohnsitz

Der Heilige Tempel in Jerusalem war der Sitz von G-ttes Gegenwart in der physischen Welt.

Ein grundlegender Aspekt unseres Glaubens ist es, dass „G-ttes Gegenwart auf der ganzen Erde gegenwärtig ist“ (Jeschajahu 6:3) und „Dort ist kein Platz, der von Ihm nicht erfüllt wird“ (Tikkunei Sohar 57); aber G-ttes Gegenwart und Beteiligung an und in Seiner Schöpfung sind durch die scheinbar unabhängigen und willkürlichen Geschehnisse in der Natur und der Geschichte maskiert. Der Heilige Tempel war ein Durchbruch in dieser Maskierung, ein Fenster, durch welches G-tt Sein Licht in diese Welt strahlen ließ. Hier war G-ttes Beteiligung in unserer Welt offen gezeigt worden, durch ein Bauwerk, in welchem Wunder ein „natürlicher“ Bestandteil des täglichen Handelns waren und dessen Platz die Grenzenlosigkeit und die Allmacht des Schöpfers zum Ausdruck brachten. Hier zeigte G-tt sich dem Menschen und der Mensch sich G-tt.

Zweimal wurde uns das Geschenk eines g-ttlichen Wohnsitzes in unserer Mitte zuteil. Zweimal verhielten wir uns diesem Geschenk gegenüber unangemessen und vertrieben die g-ttliche Präsenz aus unseren Leben.

So baute uns G-tt einen dritten Tempel. Verschieden von seinen beiden Vorgängern, die eine menschliche Konstruktion waren und darum zum Gegenstand der Entwürdigung durch die Fehlleistungen der Menschen wurden, ist der dritte Tempel so ewig und unzerstörbar, wie sein allmächtiger Architekt. Aber G-tt hat diesen „dritten Anzug“ vor uns zurückgehalten, seine Wirklichkeit in höhere, himmlische Sphären zurückgezogen, jenseits der Wahrnehmung des irdischen Menschen.

Jedes Jahr, am „Schabbat Chason“, zeigt uns G-tt den Dritten Tempel. Unsere Seelen erhalten eine Vision einer Welt in Frieden mit sich selbst und mit ihrem Schöpfer, einer Welt, durchdrungen mit dem Wissen um und dem Bewusstsein von G-tt, einer Welt, die ihr g-ttliches Potential zum Guten und zur Perfektion nutzt. Es ist eine Vision des dritten Tempels im Himmel – in seinem spirituellen und schwer zu erfassenden Status – wie der dritte Anzug, den der Vater für sein Kind gefertigt hatte, ihn aber vor ihm zurückhielt. Aber es ist ebenfalls eine Vision mit einem Versprechen – eine Vision eines himmlischen Tempels, eine Vision, die uns anhält unser Verhalten zu ändern und damit den Tag beschleunigen wird, an dem die spirituelle Vision Wirklichkeit werden wird.

Das tragbare Haus

Die Metaphern unserer Weisen sprechen uns weiterhin an, lange nachdem der Kern der Botschaft aufgenommen wurde. Unter der Oberfläche der Metapher liegt ihre Bedeutung, Schicht für Schicht, in der jedes Detail der Erzählung bedeutend ist.

Das Gleiche trifft für Rabbi Levi Jizchaks Metapher zu. Die einfache Bedeutung ist klar, aber viele bedeutende Einsichten sind in den Details versteckt. Zum Beispiel: Warum, mögen wir fragen, werden die drei Tempel als drei Anzüge dargestellt? Würde nicht das Beispiel eines Gebäudes oder Hauses passender sein?

Das Haus und die Kleidung sind beides „Wohnsitze“ und umgeben den Menschen. Aber die Kleidung tut dies in einer sehr viel persönlicheren und individuelleren Art. Da es wahr ist, dass die Dimensionen und der Stil eines Hauses das Wesen seines Bewohners widerspiegeln, so tun sie dieses in einem allgemeineren, nicht so spezifizierten Weg, wie die Kleidungsstücke bei ihrem Träger.

Demgegenüber begrenzt das Wesen der Kleidung ihre Funktion zum eigenen, persönlichen Nutzen. Ein Haus kann viele beherbergen; ein Kleidungsstück nur einen. Ich kann dich in mein Haus einladen, aber ich kann mein Kleidungsstück nicht mit dir teilen: auch wenn ich es dir gebe, es wird dich nicht bekleiden, wie es mich bekleidete, denn es „passt“ nur mir.

G-tt erwählte einen „Wohnsitz“, um Seine Gegenwart in unserer Welt zu offenbaren – ein öffentliches Gebäude, welches nicht nur einem Einzelnen diente, sondern einem ganzen Volk und der ganzen Menschheit. Der Heilige Tempel in Jerusalem hatte bestimmte Besonderheiten, die der Kleidung gleichen. Es sind diese Besonderheiten, welche Rabbi Levi Jizchak zu betonen suchte, indem er den Heiligen Tempel als einen Anzug darstellte.

Für den Heiligen Tempel gab es ebenfalls eine unterteilte Struktur. Es gab einen Hof für Frauen und einen Hof für Männer, einen Bereich, welcher den Kohanim vorbehalten war, ein Heichal („Heiligtum“), welches von einer größeren Heiligkeit war, als die „Höfe“, und das Allerheiligste – eine Kammer, in welche nur der Kohen Gadol an Jom Kippur, dem heiligsten Tag im Jahr, eintreten durfte. Der Talmud zählt acht Bereiche, mit deren unterschiedlichen Aufgaben und Zielen, im Tempelkomplex auf, die eine unterschiedliche Heiligkeit aufweisen.

In anderen Worten, auch wenn der Tempel eine einzige Wahrheit darstellte – die alles durchdringende Gegenwart von G-tt in unserer Welt – betraf sie jeden einzelnen Menschen, in einer spezifischen Weise. Obwohl es ein „Haus“ in dem Sinne war, dass es vielen Individuen gedient hat – tatsächlich der ganzen Welt – als Treffpunkt mit dem Unendlichen, jeder Mensch fand dort seine maßgeschneiderte „Kleidung“ für seine oder ihre spirituellen Bedürfnisse, entsprechend seiner oder ihrer persönlichen und innigen Beziehung mit G-tt.

Jedes Jahr, am Schabbat vor Tischa BeAw, wird uns eine Vision unserer Welt, als Heim G-ttes, gezeigt – ein Platz, wo alle Geschöpfe G-ttes Seine Gegenwart erfahren werden. Aber dies ist ebenfalls eine Vision einer G-ttlichen „Kleidung“ – der persönlichen Beziehung mit G-tt, passend zu unserem Charakter und Verlangen, werden wir uns alle erfreuen, wenn der dritte g-ttliche Tempel auf Erden erscheinen wird.