Der große jüdische Führer Mose gilt als der bescheidenste Mensch auf Erden. Von all den Besonderheiten seiner starken Persönlichkeit ist es gerade die Demut, welche ihn vor allen Menschen auszeichnete und würdig machte das Wort G-ttes dem Volke Israel zu verkünden.

Darauf stellt sich die einfache Frage: Wie wusste der von G-tt zum Propheten gekrönte Mose seine eigene Größe nicht zu schätzen, dass er sich für minderwertiger als alle anderen Menschen hielt? Außerdem verpflichtete Moses Aufgabe als Oberhaupt ihn dazu G-ttes Volk, Stärke und Majestät zu verkörpern, aber nicht in die Rolle des bescheidensten Menschen auf Erden zu schlüpfen!

Königliche Demut

In Wahrheit aber erkannte Mose sehr wohl seine besonderen Fähigkeiten, seine enorme Persönlichkeit und die Tatsache, dass gerade er auserwählt wurde all jene wunderlichen Taten zu vollbringen und G-tt von Angesicht zu Angesicht zu erblicken.

Aber gleichzeitig schrieb er all diesen Ruhm nicht sich selbst zu. Der Bescheidenheit wegen sah er in seiner Größe ein Geschenk G-ttes, und wenn ein anderer seine seelische Größe trüge und G-tt ihm offenbart wäre, hätte jener sie besser genützt und wäre ein stärkerer Führer gewesen.

Mit dieser Ansicht konnte Mose zugleich voller Demut und gleichzeitig ein starker Führer seines Volkes sein. Gar wegen seiner Demut und Selbstlosigkeit gegenüber G-tt keine eigenen Interessen vor Augen haltend, sah er in seinem ganzen Dasein nur das Wohl des jüdischen Volkes und die Vollbringung des g-ttlichen Willens, sodass er bereit war dafür mit all seinen Kräften zu kämpfen.

Warum Sinai?

Die Verbindung jener gegensätzlichen Attribute bildet auch die Vorbereitung für jeden Juden die Thora zu empfangen und auf sich einwirken zu lassen, denn jeder Jude einen Funken von Mose in sich1. Unser Wochenabschnitt vermittelt jene Botschaft, wie in seinem Namen angedeutet wird – „Behar“.

„Behar“ (zu Deutsch „auf dem Berg“) handelt von dem Berg Sinai, Ort der G-ttesoffenbarung. Dem Midrasch zufolge2 stritten die Berge Tawor und Karmel untereinander, auf welchem G-tt Sein Wort verkünden sollte, als G-tt dem jüdischen Volk die Thora übergeben wollte. Sie gelten als die zwei größten Berge in der Region. Jeder prahlte mit seiner prächtigen Größe, G-tt aber erwählte den Berg Sinai, den kleinsten von allen, als Demonstration für die Wichtigkeit der Bescheidenheit.

Jüdischer Stolz

Dabei ist aber eines unklar: Wenn G-tt die Notwendigkeit der Demut zu zeigen strebte, weshalb suchte Er dafür überhaupt einen Berg und übergab die Thora nicht in einem tiefen Tal, dem besten Symbol für die Bescheidenheit?

Die Thora allerdings fordert beides; eine Verschmelzung der Bescheidenheit einerseits mit dem Stolz auf das Judentum andererseits. Der Jude soll jene beiden Attribute in sich tragen – wahre Demut der Erkenntnis wegen, dass G-tt ihm alle seine Fähigkeiten verleiht; aber auch den Heldenmut und die eiserne Entschlossenheit stolz hinter seiner Identität zu stehen.

Um die Thora zu erhalten, muss der Jude sich als erstes zu einem „Berg“ wandeln, wie die allererste Halacha im Schulchan Aruch (jüdischer Gesetzeskodex) vorschreibt: „Man soll sich beim Erfüllen der Thora und ihrer Mitzwot nicht vor den spottenden Menschen schämen“.3

Deshalb kann der Jude nicht schwach und eingeschüchtert wirken. Sein Stolz zum auserwählten Volk zu gehören gibt ihm die Kraft allen Spottenden entgegenzutreten und selbst in ihrer Gegenwart sein Judentum auszuleben. Aber jener Berg gilt als der kleinste von allen, denn der Jude soll wahre Demut empfinden, da er einsieht, dass all sein Verdienst g-ttgegeben ist.

(Likutej Sichot, Band 1, Seite 276)